Schon über eine Million Tote

Leben und Sterben in Irak im Schatten der afghanischen Tragödie

  • Heinz-Dieter Winter
  • Lesedauer: 4 Min.
In den Schlagzeilen ist derzeit nur Afghanistan. Aber es vergeht kein Tag, an dem nicht in Bagdad oder anderen Städten Iraks ein Bombenattentat oder eine Entführung stattfindet. Über diese Tragödien wird kaum noch berichtet. Sie sind höchstens eine kleine Meldung wert. Die vielen Toten, Verstümmelten und deren Familien bleiben anonym.

Der österreichische Opernregisseur und Drehbuchautor Paul Flieder, der auch an der Komischen Oper in Berlin tätig war, führt uns in den Irak, beschreibt erschütternde Schicksale, das unendliche und unaufhörliche Leid eines Volkes – in einer Weise, die unter die Haut geht. Sein Buch erhebt keinen Anspruch auf politische Analyse. Es gibt wieder, was die Menschen in Bagdad und anderen Regionen des Landes denken und fühlen. Flieder erweckt den »Barbier von Bagdad« von Peter Cornelius und den durch die Strassen Bagdads wandelnden Harun ar-Rachid aus »Tausend und einer Nacht« zu Leben. Deren Bagdad bedeutete nicht so viel Gefahr für Leib und Leben wie das heutige. Der Autor begibt sich in einen Friseurladen und erfährt in dieser Nachrichtenbörse, wo sich viele Menschen unterschiedlicher Herkunft und verschiedener Religionen treffen, Dinge, die in den offiziellen Verlautbarungen der irakischen Regierung und der USA sowie in deutschen Medienberichten nicht mitgeteilt werden. »Es sind viele traurige, dramatische und skurrile Geschichten«, menschliche Tragödien, die für die Tragödie eines ganzen Volkes stehen. »Von der Grünen Zone im Zentrum Bagdads abgesehen, wo die Regierung das Sagen hat, wird der Irak von Terroristen, Verbrecherbanden, Mafiaorganisationen und einer oft korrupten Polizei beherrscht.«

Ein Kommunalpolitiker berichtet dem Autor, dass die Polizei zu 30 bis 50 Prozent aus »Feierabendterroristen« bestehe. Terror und ausufernde Kriminalität begannen sogleich nach Kriegsbeginn 2003. Flieder hat sich nicht in geschützte teuere Hotels einquartiert, sondern war immer dort, wo auch die einfachen Menschen leben. Darum kennt er die Lage besser, als jene in der militärisch abgesicherten »Grünen Zone« die fortschreitende Stabilisierung verkünden.

Flieder sprach mit Kindern, die schon jahrelang nicht mehr zur Schule gehen können. Lehrer sind bevorzugtes Ziel von Terroristen. Die Menschen erzählten ihm, dass ein Drittel der Intellektuellen ermordet und ein Drittel geflüchtet seien. 1987 hatte die UNESCO den Irak ausgezeichnet, weil innerhalb von zehn Jahren die Analphabetenrate von 48 auf 20 Prozent gesenkt worden ist. Heute ist diese wieder auf über 50 Prozent angewachsen. Der Autor zitiert eine Professorin der Universität Bagdad, die sich um die statistische Erfassung der Schäden und Verluste bemüht, die Krieg und Nachkrieg Irak zugefügt haben. Dazu gehören mindestens 1,3 Millionen tote Iraker, 2615 ermordete Professoren, Wissenschaftler und Ärzte, 338 tote Journalisten, drei Millionen Iraker, die das Land verließen und zwei Millionen innerhalb des Landes vertriebene Menschen.

Von einer mitunter behaupteten Stabilisierung der Lage im Irak hat der Autor nichts bemerkt. Erstaunlich das stetige Bemühen der Iraker, auch unter den schwierigsten Bedingungen ein einigermaßen normales Leben zu führen. So besuchte der Autor das provisorisch untergebrachte, von einer Betonmauer vor Bombenanschlägen geschützte Nationaltheater, in dem alte einheimische und zeitgenössische Stücke, aber auch »Hamlet« und »Macbeth«, durchaus mit Bezug zur irakischen Realität von heute, aufgeführt werden. »Wir dürfen nicht aufgeben, wir müssen unsere Kultur bewahren«, erklärt der Direktor dem Buchautor.

Die USA haben die Schiiten an die Macht gebracht. Die Sunniten sind nahezu rechtlos. So verschärfte sich ein von Extremisten beider Seiten geschürter Konflikt. Christen, die bis zum Sturz von Saddam Hussein völlig unbehelligt lebten, werden verfolgt. Trotzdem stieß Paul Flieder auf selten gewordene Idylle friedlichen und konstruktiven Miteinanders unterschiedlicher Religionen und Glaubensrichtungen: Ein Christ vertritt seinen muslimischen Nachbarn am Freitag in seinem Laden und am Sonntag der Muslim den Christen in seinem Geschäft. Ein anderer Christ und ein anderer Muslim betreiben gemeinsam eine Autowerkstatt.

Was wird aus dem Lande, wenn die US-Armee abzieht? Die Meinungen im und außerhalb des Friseurladen sind fast einhellig: Es wird einen blutigen Bürgerkrieg geben. »Höchstens zwei Tage«, sagt einer zum Barbier. »Am dritten Tag schneidest du dem ersten Iraner die Haare.« Die Wahrnehmung der Realität in den Köpfen der Menschen ist nicht ohne Wirkung für die Zukunft. Grund genug, besorgt zu sein.

Paul Flieder: Der Barbier von Bagdad. Leben, Sterben, Glauben im Irak. Residenz Verlag, Salzburg. 204 S., br., 19,90 €.
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