»Der Junge kämpfte mit Tränen«

Whitney R. Harris über Tyrannen vor Gericht – das Nürnberger Tribunal

  • Jan Opielka
  • Lesedauer: 4 Min.
Blick in den Nürnberger Gerichtssaal
Blick in den Nürnberger Gerichtssaal

Er hat viel zu sagen. Whitney R. Harris, ehemaliger US-amerikanischer Mitankläger beim Nürnberger Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs, ist zwar mittlerweile 97 Jahre alt, doch hält er bei Veranstaltungen weiterhin Plädoyers für die Internationale Strafrechtsprechung. Als ein solches Plädoyer ist auch sein ins Deutsch übersetztes Buch »Tyrannen vor Gericht« zu lesen, in dem er Genese, Verlauf und Nachwirkungen des Nürnberger Prozesses gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher detailliert nachzeichnet und kommentiert. Die Tatsache, dass das Werk in seiner Erstauflage in der englischen Fassung bereits 1954 erschienen war, macht die Lektüre nur noch interessanter – und die Frage, warum erst so spät eine deutsche Ausgabe vorliegt, stellt sich Kapitel um Kapitel neu. Denn Harris' Buch wurde bereits nach seinem Erscheinen in den USA 1954 als ein bedeutendes Werk zur Aufarbeitung des Nürnberger Prozesses gewertet.

Das Buch lebt vom Wechsel zwischen stringenter, erschütternder Wiedergabe von Originalaussagen und Dokumenten einerseits, und andererseits den Kommentaren des zum Zeitpunkt des Verfassens noch recht unmittelbar geprägten Juristen. Harris selbst ist der wohl einzige noch lebende Beteiligte am Nürnberger Prozess. Und er war nicht irgendwer: Von Anfang im Oktober 1945 bis zum Ende im Oktober 1946 dabei, vertrat der Jurist beim Prozess die Anklage gegen Ernst Kaltenbrunner, den Chef des Sicherheitsdienstes (SD). Auch bei der Vernehmung von Hermann Göring hatte er mitgewirkt. Und er hat ebenso den Kommandanten des KZ Auschwitz, Rudolf Höss, verhört.

Stärke des Buches ist die minutiöse Schilderung einzelner Gräueltaten anhand von Zeugenaussagen, Aussagen der Täter sowie Originaldokumenten. Immer wieder führt der Autor vor Augen, wie perfide das mörderische Nazisystem funktionierte – auch jenseits der Vernichtungslager. So war etwa die Bezeichnung »Sonderbehandlung« ein anderes Wort für Mord. Die Ermordung von Geiseln, Vergeltungsmorde hinter den Linien, Vergasungen in präparierten Lkw, Erschießungen von Kindern, Sklavenarbeit, tödliche Menschenversuche – Harris dokumentiert nüchtern, um anschließend moralisch und juristisch zu werten.

Der Autor verteidigt vehement das internationale Nürnberger Tribunal der Siegermächte. Er nimmt Bezug auf die Haager Landkriegsordnung 1907, verweist auf die Genfer Konvention zum Schutze der Kriegsgefangenen von 1929 – und argumentiert gemäß US-amerikanischer Rechtstradition, die auf Gewohnheitsrecht basiert. Dieser zufolge muss, vereinfacht gesagt, vor einer Tat nicht immer ein passendes Gesetz wirksam gewesen sein, und dennoch kann diese Tat im Anschluss als ein Verbrechen gewertet werden. Indes stellten die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse ihrerseits einen, ja, den Präzedenzfall für das heute geltende, wenn auch noch hinkende Völkerstrafrecht dar – das ausgerechnet die USA torpedieren.

Exemplarisch sei hier die erschütternde die Aussage von Hermann Gräbe widergegeben, einem deutschen Ingenieur, der 1943 Zeuge von organisierten Massenerschießungen an ukrainischen Juden wurde; an Männern, Frauen, Alten, Kindern und Babys (342): »Eine alte Frau mit schneeweißem Haar hielt das einjährige Kind auf dem Arm und sang ihm etwas vor und kitzelte es. Das Kind quietschte vor Vergnügen. Das Ehepaar schaute mit Tränen in den Augen zu. Der Vater hielt an der einen Hand einen Jungen von etwa 10 Jahren, sprach leise auf ihn ein. Der Junge kämpfte mit den Tränen. Der Vater zeigte mit dem Finger zum Himmel, streichelte ihm über den Kopf, und schien ihm etwas zu erklären. Da rief schon der SS-Mann an der Grube seinem Kameraden etwas zu. Dieser teilte ungefähr 20 Personen ab und wies sie an, hinter den Erdhügel zu gehen. Die Familie, von der ich hier sprach, war dabei ... Ich ging um den Erdhügel herum und stand nun vor dem riesigen Grab. Dicht aneinandergepresst lagen die Menschen so aufeinander, dass nur die Köpfe zu sehen waren. Von fast allen Köpfen rann Blut über die Schultern ...«

Das starke Buch mündet schließlich in einem Kapitel, in dem Harris den Internationalen Strafgerichtshof als logischen Schritt nach Nürnberg darlegt. Lehren müssen auch juristisch gezogen werden.

Whitney R. Harris: Tyrannen vor Gericht: Das Verfahren gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg 1945-1946. Berliner Wissenschaftsverlag. 603 S., geb., 59 €.

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