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  • 65 Jahre Befreiung

Zum 8. Mai: 65 Jahre Befreiung

Warum es in Deutschland weiter der Nachhilfe bedarf

  • Kurt Pätzold
  • Lesedauer: 8 Min.
Sowjetisches Ehrenmal in Berlin-Treptow
Sowjetisches Ehrenmal in Berlin-Treptow

Vierzig Jahre waren seit dem Maitag vergangen, der unverlierbar in den Büchern der Weltgeschichte verzeichnet ist, als der erste Mann im deutschen Weststaat neben die bis dahin in seinem Lande für das Ereignis gebräuchlichen Begriffe Kapitulation, Kriegsende, Katastrophe einen weiteren setzte: Befreiung. So geschehen in einer Rede, die Richard von Weizsäcker während einer Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Bonn hielt. Wörtlich sagte er: »Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.«

Die Feststellung verursachte Aufsehen, Zu- und Widerspruch. Mit ihr wurde eine Annäherung an eine international verbreitete Kennzeichnung vollzogen. Tag der Befreiung, so wurde der 8. Mai des Jahres 1945 vordem und seit langem schon in Kalendern und Geschichtsbüchern des deutschen Oststaates genannt. Keine andere Passage der Rede eines Bundespräsidenten ist vergleichsweise in so fester Erinnerung geblieben. Die Minderheit der Bürger der Bundesrepublik, die sich bis zu einem kritischen Verhältnis zur jüngsten, vielfach ihrer eigenen, Geschichte durchgearbeitet hatte, fand sich in dieser Charakteristik bestätigt. Indessen: die Benutzung des gleichen Begriffs bedeutet nicht immer, dass auch Gleiches gemeint wird.

Um die Ausdeutung des Wortes Befreiung entspann sich eine anhaltende Diskussion. In welchem Sinne konnte davon die Rede sein, dass nicht nur die Menschen in den eroberten und teils jahrelang von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten, nicht nur Insassen der Konzentrations- und Vernichtungslager, von Gefängnissen und Zuchthäusern, Kriegsgefangene und Zwangsverschleppte, nicht nur viele von Verfolgungen Bedrohte sich befreit fühlen konnten, sondern auch die Mehrheit der Deutschen? Stand dagegen nicht der Weg von Millionen in die Kriegsgefangenschaft, von anderen Millionen aus ihren Wohnstätten in eine ihnen fremde Lebenswelt, das Elend des Nachkriegs, die Lasten und Bedrohungen einer Besetzung des Landes durch die Siegermächte usw. Sprach dagegen nicht die Tatsache, dass sich diese Mehrheit der Deutschen keineswegs befreit gefühlt hatte?

Es bedurfte einiger Nachhilfe, um die Mehrheit der nicht eben an eine kritische Sicht in ihre Geschichte gewöhnten Bundesbürger ein Verhältnis zu dieser gewendeten Kennzeichnung zu vermitteln, das nicht aus Ablehnung bestand. Denn Weizsäckers Rede enthielt das Äußerste, was ein konservativer christlicher Politiker seinen Landsleuten zumuten wollte und, wie das Echo erwies, davon sogar etwas mehr.

Unleugbar waren die Deutschen, die sich bis gestern oder vorgestern noch als »Volksgenossen« frei- oder widerwillig dem Naziregime dienstbar gemacht und dazu beigetragen hatten, dass dieser Krieg bis in das Frühjahr 1945 dauerte, in mancherlei Beziehung befreit worden. Die einen von der Gefahr, als Soldaten weiter in sinnlose Kämpfe gehetzt zu werden und in ihnen Leben oder Gesundheit zu verlieren. Andere in den Städten Lebende wie schon Hunderttausende vor ihnen durch Luftangriffe Haus und Habe einzubüßen und in einem Keller oder in Flammen elend zugrunde zu gehen. Dritte, junge Burschen und betagte Männer, von der Aussicht, dass ein Einberufungsbefehl sie zur Wehrmacht oder in den Volkssturm kommandierte und damit in das letzte Aufgebot an Kanonenfutter, nach dem es die Generale verlangte.

Selbst wer in einem entlegenen Dorf lebte, wohin vom Kriege bis dahin kaum anderes gelangt war als Nachrichten, war wie die anderen auch von Ängsten befreit und von Hoffnungen neubelebt, die sich auf ein wieder lebenswertes Dasein richten mochten. Nicht, dass die Deutschen jetzt ohne Ängste lebten, aber es waren andere, meist nicht mehr Lebensängste, und es bestand die Aussicht, dass die weniger werden würden.

Mit dem Gedanken, dass die Deutschen vom Dasein im Kriege befreit und der Drohungen ledig waren, durch die das Regime ihnen in der Phase seiner Agonie fremd und schließlich Feind geworden war, konnten 1985 die Bundesbürger umso leichter leben, als ihnen gleichzeitig Politik und Geschichtspublizistik bescheinigten, dass sie Opfer »nationalsozialistischer Herrschaft« geworden waren. Es wurde ihnen ausdrücklich das Recht zugestanden, das sie freilich vorher schon reichlich in Anspruch genommen hatten, sich zu bemitleiden.

Auch Weizsäcker hatte in seiner Ansprache gesagt, dass nicht vergessen werden dürfe, »welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten.« Doch hatte er zugleich verlangt, der »sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden«, zu gedenken und der ungenannten Zahl von Menschen »aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben.« Der Anspruch an das Umdenken der Bundesbürger war hoch. Gefordert wurde, den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 zu trennen und zur Vergangenheit ein ehrliches und nachdenkliches, von Wahrheit geprägtes Verhältnis zu gewinnen.

Ein Vierteljahrhundert nach dieser Rede lässt sich fragen, was aus den Vor- und Ratschlägen wurde. Auf dem Markt der Bücher und Filme erschienen seit den neunziger Jahren in Serie Veröffentlichungen verschiedenster Genres, in denen die Leiden der Deutschen im Bombenkrieg und während der Flucht vor der herannahenden Front zeigten. Dazu brauchte nichts erfunden oder ausgemalt zu werden.

Millionen Deutsche waren in das Inferno des Krieges gerissen worden, als die führenden Militärs der Wehrmacht, anders als die Generale des Kaisers 1918, sich nicht dazu entschließen konnten, den Krieg verloren zu geben – spätestens, als die alliierten Armeen 1944 die Reichsgrenzen erreicht hatten. Nur setzten die meisten dieser Darstellung zeitlich »ein wenig« zu spät ein. Sie bildeten die Deutschen als Opfer ab, nicht schon, was sie doch vorher in ihrer Masse gewesen waren, als Instrumente des Regimes, die ihm erst die Kraft verliehen, den Kontinent so zuzurichten, wie sie es vermocht hatten. Da lag auch die Fehlstelle in Weizsäckers Rede. Darin war von einer verbrecherischen Führung gesprochen, den Deutschen aber nicht mehr als eine Verirrung und Verstrickung zugeschrieben worden. Das wusste der ehemalige Hitlerjugendführer und Wehrmachtsoffizier besser.

Kurzum: War von den Leiden der Deutschen die Rede, musste den Tatsachen nichts hinzugefügt werden. Doch es wurde und wird nur »etwas« weggelassen. Und das eben betrifft auch die Deutung des Begriffs Befreiung. Denn geschichtliche Wahrheit gewinnt das Wort mit dem Blick auf den 8. Maitag des Jahres 1945 erst, wenn es sich mit dem Eingeständnis verbindet, dass der Triumph der Alliierten die Deutschen von jener schändlichen Rolle befreite, die keine Generation ihrer Vorfahren je gespielt hatte. Aus eigener Kraft hatten sie die nicht abzuwerfen vermocht. Es musste ihnen noch in Berlin die letzten Waffen aus der Hand geschlagen werden.

Folgten die Deutschen – aber wie wenige taten das anfänglich – dem Vorbild des Bertolt Brecht, dann hatten sie jetzt, wie der Dichter 1933 forderte, als die Macht erst im eigenen Land in Mörderhände gebracht war, von ihrer Schande zu sprechen. Und nun war es nicht nur Deutschland, das seine Söhne zugerichtet hatte. Der Krieg war bis in das britische Inselreich und an die Wolga, vom Nordkap bis in den Norden Afrikas und dazu auf die Weltmeere getragen und überall eine Spur der Verwüstungen gezogen worden. Sie hatten Frauen nicht nur in Europa, sondern auch im Norden Amerikas, in Indien und Australien zu Müttern ohne Söhne gemacht.

Befreiung von der Fortsetzung einer Kette von Untaten. Keine davon belastet die Nachgeborenen, die aber wissen sollten, wovon ihre Groß- und Urgroßväter befreit wurden – ein Wissen, das ihnen auch ein auf Nachdenken und Mitfühlen gegründetes Verhältnis zum Krieg der Deutschen am Hindukusch verschaffen könnte.

Ein Vierteljahrhundert nach der denkwürdigen Rede erfährt der Begriff Befreiung jedoch eine neue Einschränkung. Diesmal zielt die nicht auf die Abweisung von gemeinsamer Verantwortung und individueller Schuld, sondern dient einem politischen Zweck. Die in ihrem Ursprung ältere, nun aber mit Energie unter die Leute gebrachte Deutung besagt: Befreiung sei 1945 nur den Deutschen geworden, die in den westlichen Besatzungszonen lebten. Die Ostdeutschen hingegen wären von der braunen in die rote Diktatur gefallen. Das Datum ihrer Befreiung liege im Jahr 1989/1990.

So sieht jetzt auch der frühere Bundesspräsident die Geschichte der Deutschen. Diese Betrachtungsweise stammt nicht erst aus den Tagen nach dem Ende der realsozialistischen Staaten Europas. Als in der Sowjetunion zu Gorbatschows Zeiten dienstbare Ideologen sich einer veränderten Politik anpassten, wurde in dem Lande, das die Hauptlast des Krieges gegen Nazideutschland trug, das im Westen von extremen Antikommunisten schon seit längerem verbreitete Bild eines Krieges übernommen, den »zwei Banditen« gegeneinander geführt hätten, die vordem noch kurzzeitig verbündet gewesen wären. Was aber, so lautet die intendierte Anschlussfrage, hätte ein triumphierender »Bandit« Gutes stiften können?

Von diesem Bild führt kein gerader, aber ein Weg zu jener Schandtat, es ist nicht die einzige, die sich im 65. Jahr nach Kriegsende auf europäischem Boden ereignete, der Sprengung eines Denkmals, das in der georgischen Stadt Kutaissi an die Toten des Zweiten Weltkriegs erinnerte. Unter den Älteren mochten sich manche beim Lesen der Nachricht an den von Grusia Film 1965 fertig gestellten Spielfilm »Der Vater des Soldaten« erinnern, an jene Filmballade, in der die Geschichte des georgischen Weinbauern Georgi Macharaschwili erzählt wird, der sich aufmacht, seinen verwundeten Sohn zu besuchen und selbst ein Krieger gegen die Eindringlinge wird.

Die Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa kommt mit dem Abstand von 65 Jahren gleichsam in die Rente. Da soll nicht nur den Deutschen ein neuer Blick in das verflossene Jahrhundert vermittelt werden, der es als Jahrhundert der Befreiung von »zwei Diktaturen« erscheinen lässt. Eine italienische Version spricht mit Bezug auf die Schwarzhemden von der rot-schwarz-braunen Diktaturfolge. In Nachfolgestaaten der Sowjetunion und in Staaten der einstigen Verbündeten und Kollaborateure des Nazireiches ist eine Totalrevision der Nationalgeschichte im Zeichcn ihrer Wiederentdeckung en vogue.

Eine weitere Erinnerungsschlacht hat begonnen. Die Kräfte, die sie austragen, sind an Zahl und in ihren Mitteln höchst ungleich verteilt. Über den Ausgang samt seinen politischen Folgen sind sichere Prognosen nicht zu treffen. Gewiss ist aufgrund geschichtlicher Erfahrung nur, dass es den Deutschen nie gut bekam, wenn sie mit Geschichtslügen oder auch nur mit grob vereinfachten Bildern ihrer Vergangenheit bedient wurden und ihnen glaubten.

Der Historiker Kurt Pätzold wurde 1930 in Breslau geboren. Zu seinen zahlreichen Publikationen gehört »Die Geschichte kennt kein Pardon. Erinnerungen eines deutschen Historikers«, Berlin 2008.

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