Sturm auf dem Papier

Vor 100 Jahren begann Ära der Wetterprognosen

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 3 Min.

Die frühesten Versuche, das Wetter zumindest in groben Zügen vorherzusagen, wurden in der Landwirtschaft unternommen. Dabei sind die berühmten »Bauernregeln« entstanden, an denen viele Menschen sich noch heute orientieren. Oftmals mit Gewinn. Denn die meisten dieser Regeln gründen auf der sorgfältigen Beobachtung von aufeinander folgenden Wetterphänomenen, die man danach in einen kausalen Zusammenhang gestellt hat. Da dies teilweise mit Berechtigung geschah, sind einige Bauernregeln, wie neuere Studien belegen, in 60 oder gar 70 Prozent der Fälle regional gültig.

Auch die Meteorologen stützten sich bis ins 20. Jahrhundert hinein auf sogenannte Wettermuster, die man samt ihrer zeitlichen Entwicklung archivierte. Zum Zwecke einer Prognose wurde aus dem Archiv jeweils das Muster entnommen, welches der aktuellen Wetterlage am besten entsprach. Die Hoffnung war, dass das künftige Wetter sich ebenso entwickeln werde wie das vergangene. Die erzielten Erfolge allerdings hielten sich in Grenzen. Denn die Atmosphäre bildet bekanntlich ein chaotisches System, so dass in instabilen Wetterlagen häufig eine kleine Änderung der meteorologischen Anfangsbedingungen ausreicht, um einen Wetterumschwung herbeizuführen.

Damals wusste das freilich noch niemand. Und so machte der norwegische Physiker Vilhelm Bjerknes 1904 den Vorschlag, vor jeder Wetterprognose den Luftdruck, die Temperatur und die Feuchtigkeit an verschiedenen Orten der Atmosphäre zu messen und die ermittelten Werte in speziell abgeleitete hydro- und thermodynamische Gesetze einzugeben. Da sich deren Lösung jedoch als zu schwierig erwies, blieb der physikalische Ansatz von Bjerknes zunächst »nur« Programm.

Den ersten Versuch, dadurch angeregt das Wetter numerisch vorherzusagen, wagte einige Jahre später der britische Mathematiker Lewis Fry Richardson (1881- 1953). Er löste die genannten Gleichungen nicht exakt, sondern annähernd mit der Methode der endlichen Differenzen. Für die erste Wetterprognose wählte er den 20. Mai 1910, denn an diesem Tag hatten Ballonflüge besonders viele meteorologische Daten erbracht. Nach Beginn des ersten Weltkriegs versuchte Richardson, ausgehend von der Wetterlage, wie sie an jenem Maitag um sieben Uhr morgens herrschte, auf das Wetter sechs Stunden später zu schließen.

Doch das Resultat, das er nach einigen Wochen erhielt, enttäuschte ihn. Denn während der reale 20. Mai 1910 wettertechnisch recht unauffällig verlaufen war, zogen in der virtuellen Atmosphäre des Modells nach einem ruhigen Beginn aus Richtung Osten heftige Unwetter auf – mit Windgeschwindigkeiten größer als die Schallgeschwindigkeit. Richardson erkannte rasch, dass der Fehler nicht im Prinzip, sondern in der praktischen Durchführung lag. Anders ausgedrückt: Selbst die Methode der endlichen Differenzen war für einen nur mit Papier und Bleistift ausgerüsteten Forscher einfach zu aufwendig.

In seinem klassischen Werk »Wettervorhersage durch numerische Prozesse« schrieb Richardson 1922, man bräuchte rund 64 000 »Computer« (so nannte man im Englischen seinerzeit menschliche Rechner), um das Problem lösen zu können. Das Problem selbst bestand für ihn darin, ein dreidimensionales Gitter von 200 Kilometern Maschenweite über das Vorhersagegebiet zu legen, wobei die an den einzelnen Gitterpunkten ermittelten Wetterzustände als Grundlage für eine Prognose dienen sollten. Unter seinen Fachkollegen löste dieser Vorschlag Heiterkeit aus. Wie sich indes im Nachhinein zeigte, hatte Richardson das richtige Gespür. Denn die großen elektronischen Rechner, die Meteorologen heute für ihre Prognosearbeit benutzen, verarbeiten parallel riesige Datenmengen, die ihnen fortwährend von Wetterstationen und Satelliten geliefert werden.

Obwohl Richardson mit seinem Wettermodell gescheitert war, traten bald britische Militärs an ihn heran, die sich für seine Ideen in Zusammenhang mit der Verbreitung von Giftgas in der Atmosphäre interessierten. Doch er verweigerte jegliche Kooperation und versuchte stattdessen herauszufinden, ob man kriegerische Konflikte ebenfalls mathematisch erfassen und so vielleicht rechtzeitig entschärfen könnte. Die Ergebnisse seiner Studien veröffentlichte er in mehreren Büchern, die leider nie ins Deutsche übersetzt wurden.

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