Alarm am Alexanderplatz

Vögel greifen zum Schutz ihrer Jungen Passanten an

  • Mechthild Henneke, AFP
  • Lesedauer: 3 Min.
Ernst gemeinte Warnung an der Karl-Liebknecht-Straße
Ernst gemeinte Warnung an der Karl-Liebknecht-Straße

Der Angriff kam aus der Luft: Wie in Alfred Hitchcocks Film »Die Vögel« stürzte sich in den vergangenen Tagen eine Krähe unweit des Alexanderplatzes auf einen Passanten. Doch die Krähe war keineswegs von mysteriösem Hass auf Menschen getrieben, wie in dem Horrorfilm-Klassiker, sondern sie wollte ihre Jungen verteidigen, die sie durch die Bewegung auf der Straße gefährdet sah.

Kein Einzelfall – im Zentrum von Berlin hat das Umweltamt zwei Plätze absperren lassen, um Fußgänger vor ähnlichen Attacken zu bewahren. »Es ist Brutzeit und bis der Nachwuchs flügge ist, reagieren die Krähen hochsensibel«, sagt Regine Grafe, Leiterin des Umweltamts. Der Angriff auf den Fußgänger sei ein Verhalten, wie es die Vögel zum Schutz der Jungtiere instinktiv zeigten. Für weniger natürlich hält Grafe die Menge an Krähen, die inzwischen in Berlin lebt: »Rund 5000 bis 6000 Tiere sind es laut BUND«, sagt sie, »eine Überpopulation, angezogen vom reichlichen Angebot an Nahrung in der Großstadt.« Kein Berliner Phänomen, sondern eines von Städten in ganz Deutschland.

In Berlin ist derzeit von rund 2500 Nestern in Bäumen, aber auch auf begrünten Flachdächern auszugehen. Ihre Brutstätten bauen die Vögel bevorzugt dort, wo die Nahrung nah ist, also an beliebten Plätzen mit Durchlauf von Touristen, Studenten oder Geschäftsleuten, die häufig einen Happen zwischendurch verzehren. So ist neben dem Fußweg am Alexanderplatz auch der Platz vorm Deutschen Theater nahe dem Bahnhof Friedrichstraße abgesperrt, wo sich viele Restaurants mit Gartenausschank befinden.

Den Krähen gefällt es in der Stadt, denn nirgends sonst kommen sie so leicht an Nahrung: weggeworfene Kaffeebecher, Bratwurstpappen oder Eisreste laden zum Picknick ein, aber auch Müllcontainer, die oben offen sind. »Krähen jagen in der Großstadt nicht nach Nahrung, sie gehen zum Amt zur Futterbeschaffung«, sagt Grafe mit einem Augenzwinkern.

Ernst gemeint ist ihr Hinweis, Essensreste den Vögeln nicht zum Fraß vorzuwerfen, die Pommesschale lieber gefaltet in eine Tonne zu stecken, als in einen offenen Mülleimer. Der Entzug von Nahrungsquellen könnte der Vermehrung der Tiere Einhalt gebieten. Andere Methoden wie das Aussenden von Falken oder sogar Abschießen der Vögel stoßen bei Umweltschützern und Behörden auf wenig Gegenliebe.

Ähnlich wie die Krähen profitieren auch die Ratten vom Ballungsraum Großstadt, berichtet Grafe. »Eine Faustregel besagt, dass rund zweieinhalb Mal soviel Ratten wie Menschen in der Stadt leben«, sagt sie. Das wären in Berlin also rund 8,5 Millionen Ratten. Sie freuen sich über jeden Essensrest, der in die Kanalisation gerät, oder das Fett, das aus der Pfanne in den Ausguss gespült wird. »Weil viele Menschen vorsichtig mit Wasser umgehen, ist die Fließgeschwindigkeit in den Leitungen nicht mehr hoch genug, um sie auszuspülen und die Ratten finden reichlich Nahrung», sagt Grafe.

Sie beobachtet, dass derlei Kenntnisse über die Umweltregelkreise bei den Städtern nur noch wenig verbreitet sind. An der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Technik, wo Grafe Ingenieur-Studenten unterrichtet, kenne kaum noch jemand die Zusammenhänge zwischen dem massiven Auftauchen von Vogel- oder Ratten-Populationen und der Nahrungsentsorgung durch den Menschen. Viele Berliner fütterten die Krähen sogar, weil sie Mitleid mit ihnen hätten.

Noch bis Mitte Juni herrscht Krähenalarm in der Hauptstadt. Danach dürften die Jungvögel die Nester verlassen. Dass damit die Gefahr nicht völlig gebannt ist, zeigt indes ein Vorfall in Bremen. Zwei Krähen stürzten sich vor einigen Tagen auf Fußgänger, die einer dritten, kranken Krähe am Boden helfen wollten. Drei Polizisten mit Schutzschildern waren nötig, um die Krähe zu bergen. Sie verstarb auf dem Weg zur Tierklinik, einige Fußgänger mussten ärztlich behandelt werden.

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