Vier Tage lang berieten auf der »grenzüberschreitenden« Friedens-Dschirga im August 2007 Hunderte Stammesführer aus Afghanistan und Pakistan über den Kampf gegen die Taliban. Die Versammlung ging mit einem Aufruf zu Frieden und Zusammenarbeit zu Ende – was das gemeinsame Vorgehen gegen den Terrorismus einschließen müsse. Gerade wurde eine Statistik für das Jahr 2009 vorgelegt. Die Zahl der bewaffneten Angriffe Aufständischer in Afghanistan habe sich danach im Vorjahr auf 10 333 fast verdoppelt, heißt es in der Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion. Und in diesem Jahr zeichnet sich eine weitere Steigerung ab: Allein bis Ende März wurden 2756 Attacken gezählt. Schon jetzt liegt die Zahl der Sprengstoffanschläge höher als im ganzen Jahr 2008.
Da passt der Auftakt der von 12 000 Sicherheitskräften streng bewachten neuen Friedens-Dschirga ins Bild. Während Präsident Hamid Karsai in dem riesigen klimatisierten Zelt vor rund 1600 lokalen Würdenträgern, Geistlichen, Parlamentariern sowie Vertretern ethnischer Gruppen und der Zivilgesellschaft aus dem ganzen Land den sogenannten gemäßigte Taliban in einem Appell gleichsam die Hand reichte (»Ich rufe Dich wieder dazu auf, mein Bruder, mein lieber Talib, kehre zurück. Dies ist Dein Land.«), kam es draußen zu einem Feuergefecht mit radikal-islamischen Kämpfern. Laut Medienberichten wurde das Versammlungsgelände in der Hauptstadt Kabul Ziel mehrerer Raketen. Mindestens ein Selbstmordattentäter soll sich in die Luft gesprengt haben.
Während die mehrmals verschobene Versammlung den Prozess der nationalen Aussöhnung vorantreiben will, bezeichneten unversöhnliche Taliban die Veranstaltung als »Propaganda der Invasoren«. In einer Presserklärung warfen sie den Teilnehmern vor, die Dschirga böte den USA nur einen Vorwand mehr für ihren Krieg. Zur Zeit sind 120 000 ausländische Soldaten am Hindukusch stationiert. Die Rebellengruppe Hisb-i-Islami von Ex-Premier Gulbuddin Hekmatjar, die in mehreren Provinzen Ost- und Nordafghanistans kämpft, bezeichnete die Konferenz als »sinnlose Übung«, weil »nur handverlesene Leute« eingeladen seien. Sie hat einen eigenen Fahrplan vorgelegt, der eine Übergangsregierung, den Abzug aller Truppen bis Jahresende und danach die Wahl einer islamischen Regierung vorsieht.
Drei Tage soll die Dschirga dauern, allerdings glaubt ihr Vorsitzender, Ex-Präsident Burhanuddin Rabbani, nicht, dass diese ausreichen werden, »um eine Lösung für alle unsere Probleme zu finden«. Aber die Versammlung sei ein »guter Anfang«. Rabbani forderte alle Beteiligten auf, keine Vorbedingungen für Friedensverhandlungen mit den Taliban zu stellen. Andere afghanische Politiker sind da skeptischer: »Das Ergebnis der Dschirga wird uns nicht weiter bringen im Friedensprozess«, meint etwa Abdullah Abdullah, Gegenkandidat von Karsai bei der manipulierten Präsidentenwahl im Vorjahr.
Präsident Karsai, der die Idee einer solchen Friedens-Dschirga erstmals auf der Londoner Afghanistan-Konferenz im Januar präsentierte, will Taliban-Kämpfer und andere Rebellen mit finanziellen Anreizen zum Niederlegen ihrer Waffen bewegen. Ein von Geberländern mit rund 130 Millionen Euro finanziertes »Friedens- und Reintegrationsprogramm« verheißt den Aufständischen Arbeits- und Ausbildungsplätze sowie Entwicklungshilfe für ihre Heimatdörfer. Einfachen Kämpfern soll dem 36-seitigen Papier zufolge Straffreiheit zugesichert werden, wenn sie die Waffen abgeben und die Verfassung anerkennen; Anführern könnte unter anderem der Gang ins Exil angeboten werden, wenn sie sich vom Terrornetzwerk Al Qaida lossagten.
Wenn die Kämpfe andauerten, so Karsai gestern, werde das nur den Abzug der internationalen Truppen verhindern. »Schließt Frieden mit mir, und wir werden keine Ausländer mehr hier brauchen«, tönte er. In ethnischen Minderheiten des Landes befürchtet man aber auch, dass Karsai in der Hoffnung auf eine Übereinkunft mit den Taliban, die wie er aus der größten Volksgruppe der Paschtunen stammen, ihre Interessen verraten könnte. »Sein Programm liest sich wie ein Deal mit den Taliban«, moniert beispielsweise die Abgeordnete Fausia Chofi. Die Tadschikin überlebte im März in ihrer Heimatprovinz Badachschan einen Mordanschlag. Pakistans Ex-Geheimdienst-Chef Hamid Gul ist sich sicher, dass mit dieser afghanischen Regierung Aussöhnung unmöglich sei. »Man spricht doch nicht mit Marionetten, sondern – wenn überhaupt – mit den richtigen Akteuren. Das sind in diesem Konflikt der höchste Führer des Widerstands, Taliban-Chef Mullah Omar, und die USA. Karsai ist doch schon längst Geschichte.«
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/172261.raketen-gegen-versoehnung.html