Keimzelle des Reformjudentums

Synagoge in Seesen wird 200 Jahre alt

  • Rosemarie Garbe
  • Lesedauer: 3 Min.
Im Jahr 1810 weihte der jüdische Bankier Israel Jacobson (1768-1828) im niedersächsischen Seesen am Harz eine neue Synagoge ein. Das Gotteshaus beeinflusste ganz Europa.

Seesen. Für das liberale Judentum ist die Synagoge in Seesen mehr als 70 Jahre nach ihrer Zerstörung noch heute ein Begriff. Von der kleinen niedersächsischen Harzstadt aus breitete sich im 19. Jahrhundert in ganz Europa eine neue geistliche Musik aus. Gottesdienst und Predigt wurden im Seesener Jacobstempel reformiert. 200 Jahre nach dessen Einweihung wird nun an diese Keimzelle des Reformjudentums erinnert. Vom 13. bis zum 19. Juni ist ein Festprogramm mit Vorträgen, Konzerten und einer jüdischen Kabbalat-Schabbatt-Feier geplant.

»Der Jacobstempel hat die Emanzipation des Judentums nachhaltig beeinflusst«, bilanziert Seesens Bürgermeister Hubert Jahns. So wies die Architektur der Synagoge Bezüge zur benachbarten evangelischen St.-Andreas- Kirche auf. Turm mit Uhr und Glockenschlagwerk verliehen dem Tempel eine christlich-kirchliche Anmutung. Der Rabbi predigte auf Deutsch.

Erziehung zur Toleranz

Im Jahr 1810 weihte der jüdische Bankier Israel Jacobson (1768-1828) die neue Synagoge. »Jacobson war ein Gestalter«, erinnert der Wolfsburger Publizist und Politologe Dirk Stroschein. Jacobson war Kammeragent des Herzogs von Braunschweig, Landesrabbiner und später Präsident des Israelitischen Konsistoriums am westfälischen Hof in Kassel.

In seinem Denken war er stark beeinflusst von den aufklärerischen Schriften Lessings. Stroschein: »Er erkannte aus Studium und praktischer Anschauung als Landesrabbiner, dass mit der damals äußeren und rechtlichen Gleichstellung der Juden auch eine innere, sittlich-erzieherische Reform einhergehen musste.«

Zu Jacobsons Zeiten zählte die jüdische Gemeinde in Seesen rund 120 Mitglieder. Der Rabbiner führte erstmals in einem jüdischen Gotteshaus in der Diaspora das Orgelspiel ein, den gemeinsamen Chorgesang von Frauen und Männern sowie den Choral. Über dem Nordportal stand zu lesen: »Haben wir nicht alle einen Vater? Hat uns nicht ein Gott geschaffen?«

Der neue Jacobstempel war vor allem für die Schüler der Religions- und Industrieschule gedacht, die Jacobson kurz zuvor gegründet hatte. Hier wurden Christen und Juden gemeinsam erzogen mit dem Ziel gegenseitiger Toleranz und Achtung. Seit 2001 erinnert die Union progressiver Juden in Deutschland an den liberalen Vordenker. Sie verleiht alle zwei Jahre den undotierten Israel-Jacobson-Preis, um herausragende Persönlichkeiten zu würdigen, die sich um ein lebendiges Judentum der Moderne verdient gemacht haben.

»Eine jüdische Gemeinde gibt es hier in Seesen nicht mehr, doch wir erwarten zum Fest viele interessierte Besucher«, sagt Jahns. Er gehört zum Arbeitskreis »200 Jahre Synagoge Seesen« und organisiert die Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit Professor Andor Izsák vom Europäischen Zentrum für Jüdische Musik Hannover.

1938 zerstört

Nach Einschätzung des ungarischen Organisten und Musikexperten Izsák bestimmten die Reformen aus Seesen die weitere Entwicklung synagogaler Musik etwa in Berlin, Hamburg, Leipzig und Prag: »Die synagogale Musik verband die alte, traditionelle Vortragsweise der heiligen Texte mit den Ausdrucksmöglichkeiten der Musik des 19. Jahrhunderts.« Stroschein sieht in der Einweihung des Tempels die Geburtsstunde des reformiert-liberalen Judentums. »Das war ein Symbol für die Hoffnung auf eine Bruderschaft aller Menschen, gleich welchen Glaubens.«

Ein Symbol, das mit der Zerstörung in der »Reichspogromnacht« im November 1938 untergegangen ist. Doch das Erbe pflegen die »Synagogalen Tage«, die es seit 2003 in Seesen gibt. Auch im Stadtbild finden sich Spuren der jüdischen Vergangenheit. So hängt derzeit an der ehemaligen Jacobsonschule ein riesiges historisches Foto, das im Maßstab 1:1 die Fassade des Jacobstempels abbildet. Im Boden eingelassene Messingplatten erinnern an den Standort der ehemaligen kleinen Schulsynagoge, originalgetreue Modelle vermitteln einen Eindruck des Tempels.

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