Streitfrage: In Berlin schon mit 16 an die Wahlurne?

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Vergangenen Oktober hat das Bundesland Bremen für die Bürgerschaftswahlen das Wahlalter von 18 auf 16 gesenkt. In Berlin sollen bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus 2011 16- und 17-Jährige ebenfalls abstimmen dürfen. Dazu ist die Änderung der Landesverfassung mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig. Diese Mehrheit käme nur durch eine gemeinsame Abstimmung der Fraktionen von SPD, LINKEN und Grünen plus einem weiteren Abgeordneten zustande. Bisher gilt in der Bundeshauptstadt das Wahlalter 16 nur auf Bezirksebene. Die Berliner SPD entscheidet am Wochenende auf ihrem Parteitag über die Absenkung des Wahlalters. Es debattieren: Dr. Fritz Felgentreu (SPD) und Clara Herrmann (Bündnis90/Die Grünen).

Beliebige Argumente der Befürworter

Clara Herrmann
Clara Herrmann

Von Fritz Felgentreu

Der Vorschlag, das Wahlalter auf 16 Jahre abzusenken, ist eine sympathische Idee. Wer wollte nicht etwas dafür tun, dass Jugendliche ernst genommen und zu mehr politischer Teilhabe berechtigt und motiviert werden? Eine gute Idee allerdings ist er nicht. Zu einer guten Idee würde gehören, dass ein Missstand dadurch beseitigt oder eine befriedigende Situation noch verbessert wird. Das Wahlalter 16 leistet keinen solchen Beitrag.

Der einzig denkbare Missstand, den das Wahlalter 16 beheben könnte, wäre ein Demokratie-Defizit, das dadurch entsteht, dass 16- und 17-Jährige von der Wahl des Landesparlaments ausgeschlossen sind. Bei dieser Überlegung wird aber der Grundsatz, dass ein Schwellenalter erforderlich ist, nicht infrage gestellt – denn Neugeborenen will niemand ein Wahlrecht gewähren. Wer im Unterschied zu fast allen demokratisch verfassten Staaten schon 16-Jährigen das Wahlrecht einräumen will, müsste nachweisen, dass Jugendliche ab 16 jungen Erwachsenen ab 18 so ähnlich sind, dass ein Festhalten am etablierten Wahlalter nicht länger gerechtfertigt wäre – und zwar im Unterschied zu Jugendlichen ab 15.

Die Überlegung zeigt: Die beiden Hauptargumente für das Wahlalter 16 sind beliebig. Denn natürlich gibt es ohne Zweifel tausende Jugendliche in Berlin, die verantwortungsbewusst und kritisch eine begründete Wahlentscheidung treffen können. Aber genauso gibt es Tausende, denen diese Fähigkeiten abgehen – und zwar nicht nur unter den 16-Jährigen, sondern auch unter den 18-Jährigen und (um meine eigene Altersgruppe nicht auszulassen) selbstverständlich auch unter den 41-Jährigen. Mit dem Argument der Reife lässt sich also eine Anhebung des Wahlalters ganz genauso begründen. Die »Reife« – was auch immer das genau ist – ist deshalb höchstens ein Hilfskriterium, um die richtige Zahl zu bestimmen: Denn auf individuelle Fähigkeiten kann und darf das gesetzliche Wahlalter keine Rücksicht nehmen.

Das zweite Argument für die Absenkung ist ebenso zutreffend wie nutzlos. Denn natürlich bereiten Wahlentscheidungen politische Entscheidungen vor, die für die Zukunft 16-Jähriger wichtig sein können. Sie bereiten aber genauso Entscheidungen über die Zukunft 14-Jähriger, 12-Jähriger und Neugeborener vor. Ein Fingerzeig für die Festlegung des Wahlalters lässt sich daraus nicht gewinnen.

Wenn diese beiden Argumente nicht tragen, bleibt weiter offen, worin die Wesensgleichheit der 16- und der 18-Jährigen bestehen soll, die das frühere Wahlalter demokratietheoretisch erforderlich machen würde. Unser Recht geht jedenfalls von deutlichen Unterschieden aus. Diesen Unterschieden trägt ein System Rechnung, das das allmähliche Hineinwachsen Jugendlicher in die Verantwortung für sich und andere mit einer stufenweisen Erweiterung ihrer Rechte begleitet: Mit vierzehn erreichen wir die Religionsmündigkeit, mit sechzehn die kommunale Wahlmündigkeit und mit achtzehn die allgemeine bürgerliche Mündigkeit, darunter das Recht, Gesetze zu machen und Regierungen zu wählen.

Dieses System ist vernünftig und konsequent. Das kommunale Wahlrecht mit 16 zieht das gleiche Wahlrecht auf Landesebene keineswegs logisch nach sich. Durch das frühe kommunale Wahlrecht wird Jugendlichen vielmehr die Bedeutung der unmittelbarsten politischen Verantwortungsebene bewusst gemacht und ein erstes Entscheidungsrecht unterhalb der Ebene von Gesetzgebung und Regierung eingeräumt – ein guter Weg, um an staatsbürgerliche Verantwortung heranzuführen und einen Sinn für Methode und Würde der Demokratie zu stärken.

Die Vollendung des 18. Lebensjahrs ist vielfältig als Eintritt in das Erwachsenendasein markiert: nicht nur durch die Wahl, sondern auch durch eine Reihe weiterer Rechte (Autofahren, Zugang zu nicht jugendfreien Medien, Konsum von Tabak und Alkohol, Glücksspiel), Pflichten (Wehrpflicht) und Sanktionen (Erwachsenenstrafrecht). Unser Recht geht generell davon aus, dass 16- und 18-Jährige nicht gleich zu behandeln sind. Wer diesen Grundsatz für das Wahlrecht leugnet, muss auch bereit sein, ihn in den anderen genannten Fällen infrage zu stellen.

Die Alternative wäre, ausgerechnet das Wahlrecht aus dem Gebäude der Mündigkeitsrechte und -pflichten herauszulösen. Wer das tut, legt nahe, dass im Allgemeinen weniger Reife erforderlich ist, um ein Gesetz zu machen (Volksentscheid) und eine Regierung zu wählen, als dazu, ein Auto zu fahren, Pornografie zu konsumieren oder in einer Kneipe eine Zigarette zu rauchen. Ich halte das für einen ganz falschen Weg. Er wird nicht dazu beitragen, das Ansehen der Demokratie zu stärken – im Gegenteil: Was man hinterhergeworfen bekommt, ist in der Regel nichts wert.

Heute ist das Wahlrecht das vornehmste der vielen Rechte, die ein junger Mensch an seinem 18. Geburtstag erwirbt. Die psychologische Wirkung der erfüllten Vorfreude sollten wir – auch im Interesse unserer demokratischen Ordnung – nicht unterschätzen. Das Wahlalter 18 hat sich millionenfach bewährt. Wir sollten selbstbewusst daran festhalten.

Dr. Fritz Felgentreu, Jahrgang 1968, ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Rechtspolitischer Sprecher der SPD im Abgeordnetenhaus von Berlin. Der studierte Philologe ist Vorsitzender der Neuköllner SPD und seit 2001 Mitglied des Abgeordnetenhauses.

Gewinn für die Demokratie

Von Clara Herrmann

Einen Beruf wählen, für ein Jahr ins Ausland gehen, die Zukunft planen, Geld verdienen und ausgeben, dafür ein Konto eröffnen, aber auch Bier trinken oder Motorrad fahren – das alles darf man mit sechzehn. Die Volljährigkeit und somit die volle Geschäftsfähigkeit beginnen erst mit 18. Das Gesetz räumt Jugendlichen aber bereits mit 14 ein, sich für eine Religion entscheiden zu können. Ebenfalls mit 14 haben sich Jugendliche strafrechtlich zu verantworten. Hier gehen die Gesetzgeber davon aus, dass die Fähigkeit, einen Sachverhalt zu bewerten, genauso vorhanden ist wie Schuld- und Einsichtsfähigkeit.

Jugendliche zwischen 16 und 18 haben also viele Rechte und Pflichten. Wählen aber – das dürfen sie nicht. Dabei ist die Jugend einem stetigen Wandel ausgesetzt. Untersuchungen zeigen, dass die Pubertät um 1900 noch im Alter zwischen 15 und 16 einsetzte. Heute endet die Kindheit schon zwischen dem 12. und 13. Lebensjahr. Ab dann setzt nicht nur das körperliche Erwachsensein ein, sondern auch das psychische und kognitive.

Davon, dass bei Jugendlichen spätestens mit 14 Jahren ohne Einschränkungen die Einschätzung möglich ist, was bei einem Wahlvorgang passiert, ist der Jugendforscher und Leiter der Shell-Jugendstudien, Klaus Hurrelmann, überzeugt. In Berlin wird 16- und 17-Jährigen diese Kompetenz auf kommunaler Ebene zugesprochen. Und die Bezirksebene ist im Land Berlin bekanntermaßen nicht der Kindergarten oder die Spielwiese der Politik, sondern ein relevanter Teil des politischen Gesamtgefüges. Altersgrenzen, vom Wahlalter bis zum Renteneintrittsalter, sind immer gesetzt und damit in gewisser Weise willkürlich. Auf individueller Ebene sind sie sogar oft unfair. Es gibt kein politisches Reife-Gen. Und schon gar keines, das sich zu Kommunalwahlen mit 16 und zu allen anderen Wahlen mit 18 anknipst. Die Befähigung zum Mitbestimmen ist keine Frage des Alters, sondern der politischen Bildung und des Interesses. Beides darf niemandem von vornherein abgesprochen werden – egal ob 16 oder 61. Verallgemeinerungen, dass die Jugend politikunfähig wäre und alle Erwachsenen politikfähig seien, teilt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht. Wer diese Argumentationskette der Politikreife ganz zu Ende denkt, der darf sich gar nicht für Wahlaltersgrenzen einsetzen, sondern müsste sich für eine Art »Wahlführerschein« aussprechen. Und das entspricht nun gar nicht unserem demokratischen Grundverständnis.

Das Recht zu allgemeinen, unmittelbaren, gleichen, freien und geheimen Wahlen ist ein Grundrecht, das in den letzten Jahrhunderten von vielen gesellschaftlichen Gruppen mühsam errungen wurde. Alle Wahlrechtserweiterungen, sei es 1919 die Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland oder 1970 die Absenkung des Wahlalters von 21 auf 18, wurden gegen das Argument der »Nichtreife« durchgesetzt – zum Glück. Heute kommt niemand mehr auf die Idee, dass Frauen oder 18-Jährige zu dumm zum Wählen seien.

Das politische Interesse junger Menschen wird gedämpft, weil sie von PolitikerInnen häufig nicht wahrgenommen werden und sich von der Politik in den allermeisten Fällen nicht vertreten fühlen. Allen Abgesängen auf die »Jugend von heute« zum Trotz sind sie an gesellschaftlichen Debatten interessiert. Sie sind eben nicht die kleinen, ausschließlich im Internet lebenden, konsumfixierten Ego-Shooter. Vielmehr ist es Tatsache, dass sich Jugendliche überdurchschnittlich häufig ehrenamtlich engagieren. Durch ihre Mitarbeit in Jugendverbänden und gesellschaftlichen Initiativen zeigen sie Einsatzbereitschaft für eine zukunftsfähige Entwicklung unserer Gesellschaft.

Hier wird das Paradox deutlich: Die Altersgruppe von 16 bis 18 ist nahezu vollständig abhängig von politischen Entscheidungen anderer und gleichzeitig von den Fragen der politischen Zukunftsgestaltung häufig am stärksten betroffen. Wer muss den Schuldenberg abbezahlen? Wer muss den Klimawandel ausbaden? Und wer erlebt die Bildungspolitik täglich am eigenen Leib? Aussagen und Bedürfnisse der Jugend haben in der Politik dennoch kein ernsthaftes Gewicht. Am Ende zählt nur eines: das Wahlergebnis. Und darauf haben 16- und 17-Jährige in Berlin bisher leider keinen Einfluss.

Wer das ändern will, muss Zutrauen haben in die Jugend von heute, die an der Welt von morgen schon heute stark interessiert ist. Das Wahlrecht ab 16 ist keine simple Lösung für die zunehmende Politikverdrossenheit, die altersunabhängig bei einigen vorherrscht. Aber es bedeutet eine Anpassung unseres Rechts an die gesellschaftliche Realität und ein Mehr an Freiheit und Verantwortung für eine Altersgruppe, die in weiten Teilen bereit ist, sich dieser Verantwortung zu stellen. Den 16- bis 18-Jährigen diese Chance zur Mitbestimmung einzuräumen, ist vielleicht auch ein Wagnis – aber vielmehr noch ein Gewinn für die Demokratie.

Clara Herrmann, 1985 in Berlin geboren, ist Jugendpolitische Sprecherin der Grünenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Sie ist Präsidiumsmitglied im Bundesausschuss der Grünen Jugend und trat 2002 in die Partei ein.

Dr. Fritz Felgentreu
Dr. Fritz Felgentreu
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