Hotel Lux

Eine Familie mit 72 Kindern

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 9 Min.

Elke und Johannes Lux wohnen in Berlin-Mahlsdorf. Sie haben vier Kinder. Anne wurde 1968 in Elkes erster Ehe geboren, Martin kommt 1974 zur Welt, Carsten 1978, Oliver 1984. Bei Olivers Geburt ist Elke Lux 35 Jahre alt, in der DDR gilt sie schon als Spätgebärende. Doch das Ehepaar wünscht sich ein weiteres Kind: Warum nicht eines adoptieren? Nein, lehnt man das Ersuchen ab, wo sie doch das Glück haben, bereits vier Kinder ihr »eigen« zu nennen. Ende 1988 knüpfen sie den Kontakt zu einem Heim für lernbehinderte Kinder, schlagen vor, eine Patenschaft zu übernehmen. Die erste Begegnung mit ihrem zukünftigen Patenkind, der achtjährigen Sabine*, soll am 8. Oktober 1989 stattfinden; sie bringen einen Blumenstrauß mit. Aufgrund der »angespannten politischen Situation« nach dem 40. Jahrestag der DDR dürfen sie das Heim nicht betreten. Sabine sehen sie nur aus der Ferne – das Mädchen spielt auf dem Hof. Doch bereits einen Monat später übernachtet es erstmals bei ihnen. Nach regelmäßigen Kontakten beschließen Elke und Johannes Lux, es in die Familie aufzunehmen. Sie sagen: »unsere Anne«, »unser Martin«, »unser Carsten«, unser Oliver« und – »unsere Sabine«.

»Sabine«, erzählt Elke Lux, »ist wie ein eigenes Kind für uns.« Rein rechtlich gesehen war Sabine das natürlich nie: Sie wurde von ihrer alkoholkranken Mutter nicht zur Adoption freigegeben, jedoch deren Obhut entzogen. Zu Familie Lux kam Sabine zur Langzeitpflege, das heißt, sie blieb bis zu ihrer Volljährigkeit. Elke und Johannes Lux hatten mit dem Jugendamt einen Pflegevertrag abgeschlossen, der ihre Pflichten und Rechte regelte: Pflegeeltern bekommen grundsätzlich das Erziehungs-, aber nicht das Sorgerecht. Anders gesagt: Schwerwiegende Entscheidungen wie die über eine eventuell notwendige Operation oder die Unterzeichnung eines Lehrvertrages hätten sie nicht treffen dürfen. Was Pflegeeltern aber dürfen und leisten sollen: dem Pflegling eine liebevolle Atmosphäre bieten. Familie Lux vermochte das. Sabine lebte sich gut ein, verstand sich mit den anderen Kindern. Elke Lux, um nichts falsch zu machen, besuchte eine Schule für Pflegeeltern. Sie und Johannes erklärten sich bereit, gegebenenfalls auch weiter Kinder zur sogenannten Kurzpflege aufzunehmen. Dann passierte es: Als Elke eines Tages wieder einmal beim Jugendamt vorsprach, »um etwas für Sabine zu regeln«, bat man sie, drei Geschwisterkinder, deren Mutter dringend ins Krankenhaus musste, für kurze Zeit bei sich aufzunehmen, und zwar sofort. Elke Lux telefonierte mit ihrem Mann. Der rief ungläubig: »Gleich drei?« Sie nahmen die drei.

Eigentlich hatte Sabine das einzige Pflegekind der Familie bleiben sollen. Bis heute waren es 72 Kinder, denen Elke und Johannes Lux ein Zuhause boten. Einigen davon nur kurzzeitig, andere wuchsen bei ihnen auf. Fünf davon, auch Sabine, konnten sie inzwischen in die Volljährigkeit entlassen. Zwei Jungen, Christian* und Michael*, leben heute noch bei ihnen.

Elke und Johannes Lux lernten sich in der DDR-Akademie der Wissenschaften kennen. Elke arbeitete dort als Laborantin, Johannes als promovierter Verfahrenstechniker. Bald nach der Wende verlor die Laborantin ihre Arbeit, Angst vor der Zukunft hatte sie nicht – Johannes verdiente gut, und sie war überzeugt, einen neuen Job zu finden. Beide waren religiös, wenn auch keine großen Kirchgänger: er Katholik, sie Protestantin. Inzwischen ist Elke bei den Baptisten, »aber das alles spielte für unsere Entscheidung keine große Rolle«. Elke Lux spricht von Dankbarkeit, die vielleicht ein Grund dafür war, dass sie sich dazu entschlossen, eine Pflegefamilie zu werden. Dankbarkeit dafür, dass sie das Zweifamilienhaus, in dem sie im zweiten Stock wohnten und das einem alten Herrn gehörte, nach dessen Tod von den Erben kaufen konnten. Dennoch dürften die Werte, die Elke und Johannes Lux anerzogen wurden, nicht ganz nebensächlich gewesen sein. Wann hat man in unserer Gesellschaft zuletzt von Dankbarkeit reden hören?

Raum, um Kinder aufzunehmen, war also genug vorhanden. Zum Haus gehört auch ein großer Garten, mit Hecken und Rasen – leicht zu pflegen. Auf dem Rasen zwei Gartentische, umringt von vielen Gartenstühlen. Abseits Hollywoodschaukeln, eine Wäschespinne, darauf die T-Shirts Halbwüchsiger und jede Menge Handtücher. Elke Lux hat die Wäsche morgens aufgehängt, bis abends wird sie trocken sein. Unter einem Sonnenschirm stehen kühle Getränke bereit. Dort lädt man uns ein, Platz zu nehmen. Vor unserem Besuch hat Familie Lux noch einmal mit dem Jugendamt telefoniert: Wir dürfen Christian und Michael, die noch minderjährig sind, nicht fotografieren. Damit haben wir gerechnet: Die Jungen sollen geschützt werden. Da es früher Vormittag ist, sind sie ohnehin in der Schule.

Christian, erzählt Familie Lux, sei ihnen erst in diesem Januar »zugelaufen«. Sie nennt den Jungen »ein Geschenk des Himmels«, denn »er und Michael waren gleich wie dicke Tinte«. Auch Christians Mutter sei schwer alkoholkrank, der Vater Christian gegenüber gewalttätig geworden. Alle Kinder, die zur Pflege gegeben werden, kommen aus Problemfamilien – geprägt von Alkohol, psychischen Erkrankungen, sozialen Verwerfungen, Misshandlungen. Dies treffe oft auch auf Familien zu, aus denen die Kinder nicht dauerhaft, sondern nur vorübergehend herausgenommen und in Pflege gegeben werden: »Oder finden sie es normal, wenn eine Mutter, die plötzlich ins Krankenhaus muss, niemanden hat – keine Oma, keinen Opa –, der sich um ihre Kinder kümmert?« Familie Lux erinnert sich, wie ihre ersten Kurzzeitpfleglinge die Mutter im Krankenhaus anriefen und ihr staunend mitteilten: »Die haben hier sogar einen Vater!« Etliche ihre Pflegekinder unterhalten heute noch Kontakt zu Elke und Johannes Lux. Sie rufen an, wenn sie Sorgen haben, kommen vorbei, wenn sie »sich mal wieder satt essen wollen«, oder laden die früheren Pflegeeltern zur Hochzeit ein. Jene ersten Kurzzeitpfleglinge hätten es leider nicht auf die Sonnenseite des Lebens geschafft: Das Mädchen bekam mit 18 ein Kind, einer der Jungen saß schon im Gefängnis.

Oft sind die Kinder, die Lux’ aufnehmen, selbst psychisch oder gar physisch geschädigt. Sabine beispielsweise leidet an einer Alkoholembryopathie – die Mutter hatte auch während der Schwangerschaft getrunken, so dass Sabine stets etwas kleiner als ihre Altersgefährten blieb und ihr das Lernen bis heute schwerfällt. Was kann eine intakte Familie solchen Kindern überhaupt geben? Elke Lux überlegt keine Sekunde: »Liebe, Geborgenheit, Zuwendung. Ein glückliches Stück Kindheit oder Jugend, das ihnen keiner mehr nehmen kann.« Wie erträgt eine intakte Familie die Belastung, die »schwierige« Kinder mit sich bringen? »Ach, wissen Sie«, sagt Elke Lux, »gibt man diesen Kindern Liebe, sind sie gar nicht mehr so schwierig. Wir hatten mehr Freude als Kummer mit ihnen.« Manche Nacht habe sie dennoch wachgelegen. »Die Probleme machen die Herkunftsfamilien. Da rufen die Mütter ständig an, stehen plötzlich vor der Tür, wollen die Kinder mitnehmen. Andererseits halten sie Verabredungen nicht ein: Wir vereinbaren einen Besuch, ich backe mit dem Kind einen Kuchen, es wartet an der Bushaltestelle, aber die Mama taucht nicht auf. Haben Sie eine Ahnung, wie so ein Kind leidet? Ich habe immer mitgelitten und war voller Wut auf diese Frauen. Anderseits taten sie mir Leid: Die sind ja selbst ganz arme Wesen. Auch sie wünschen sich eine heile Familie, aber schaffen es nicht, eine aufzubauen.«

Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs ist Elke Lux schon mehrere Stunden auf den Beinen. Die Nacht der Pflegemutter endet um fünf Uhr. So kann sie in Ruhe das Frühstück vorbereiten. Sie deckt den Tisch nicht einfach mit Marmelade, Butter, Wurst, sondern zaubert für jeden, was er mag: mit Käse überbackenen Toast, Crêpes oder auch Rühreier. Viel Arbeit, doch das Frühstück ist heilig. Oft bleibt es die einzige Mahlzeit des Tages, die alle gemeinsam einnehmen – mittags kommen die Kinder zu unterschiedlichen Zeiten nach Hause, und abends ziehen sie wieder los, um ihren Interessen nachzugehen. Weiß man, dass im Hause Lux zuweilen acht Personen am Frühstückstisch saßen, kann man sich vorstellen, wieviel Zeit die Hausfrau morgens in der Küche zubrachte. Dann kann man sich auch ausmalen, wie wenig Zeit sie am Tage für sich hatte. Damals hat sie die Hörbücher für sich entdeckt: Sie liebt gute Literatur. Da sie nicht mehr zum Lesen kam, hat sie Romane eben gehört. Diese Angewohnheit behielt sie bei. Obwohl sie heute »nur« noch einen Vier-Personen-Haushalt managt und Johannes inzwischen im Ruhestand ist, ihr bei der Hausarbeit zur Hand geht. Weder sie noch Johannes machen den Eindruck, als trügen sie eine schwere Last. Sie haben eine Aufgabe, bei der sie sich nicht aufgeben. Elke und Johannes Lux reisen gern. Mit ihren Dauerpflegekindern fliegen sie jedes Jahr in den Urlaub, in ein Vier-Sterne-Hotel in die Türkei, nach Ägypten oder Tunesien. Doch sie verreisen auch allein. In Mahlsdorf übernimmt dann Tochter Anne. »Dort, wo alles ganz anders ist, schalten wir ab.«

Zurück zum Familienfrühstück. Das Frühstück sei auch deshalb so wichtig, weil man dabei gut reden könne. Heute habe Christian wissen wollen, wie eigentlich die Pille wirkt. Christian ist 16 und hat seit kurzem eine 14-jährige Freundin, die an den Wochenenden ebenfalls »andockt«. Elke Lux schüttelt den Kopf: »Er erzählte von einer Mitschülerin, die dachte, wenn sie sechs Tage die Pille nicht nimmt, könne sie danach einfach sechs Pillen auf einmal schlucken, und sie sei immer noch geschützt. Was lernen die eigentlich in der Schule?« Nein, verbieten könne man Christian die Beziehung nicht: »Sie würden sich dann heimlich im Wald treffen.« Alles, was sie tun können, sei zu reden und aufzuklären. Und darauf zu hoffen, dass es nützt.

Nützt es? Haben »ihre« Kinder als Erwachsene die Chance, ein normales Leben zu führen und auf eigenen Füßen zu stehen? Das wisse man nie, sagt Johannes Lux. Manche Verletzung, manche Schädigung, die sie früh erleiden mussten, erweise sich als irreparabel. Einige ihrer Langzeitpflegekinder hätten es »gepackt«: Veronika* zum Beispiel studiere, Sabine habe eine Ausbildung zur Hauswirtschaftspflegerin absolviert und zeige »im Umgang mit hilfsbedürftigen Menschen ein besonderes Feeling«. Jamie* dagegen sei ins Schlingern geraten.

Jamies Mutter ist schizophren, er selbst galt als gewalttätig und hat in seiner Zeit bei Luxens mehrere Therapeuten »verschlissen«. »Wir haben ihn mit ganz viel Mühe durch die Hauptschule gebracht, nach einem Jahr Berufsvorbereitung hat er eine Lehre anfangen können. Im August ist Jamie achtzehn geworden. Wir haben ihm eine wunderschöne kleine Wohnung gesucht, ihm wie allen unseren Kindern etwas Geld mit auf den Weg gegeben und dafür gesorgt, dass ihm ein Sozialarbeiter und ein gerichtlicher Betreuer zur Seite stehen. Jetzt haben wir erfahren, dass er an ungute Freunde geraten ist, nicht mehr pünktlich an seinem Ausbildungsplatz erschien, so dass ihm gekündigt wurde. Wir schickten ihm eine SMS: Jamie, wir wissen, was passiert ist. Kannst dich ruhig bei uns melden.« Sie warten noch auf ein Lebenszeichen.

Christian und Michael werden wohl die letzten Dauerpflegekinder im Hause Lux sein. 65 ist das Alter, in dem eine Pflegefamilie normalerweise aufhört. Elke Lux möchte eine Lanze für alle »Pflegekollegen« brechen, die demnächst noch nicht in den Ruhestand treten und es nie auf die Titelseiten schaffen, weil sie gute Arbeit leisten. Man nehme Kinder nicht auf, um Geld zu verdienen: »Kinder sind das Kostbarste im Leben.«

*Namen geändert

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