Falsche Verdächtigungen

Polizisten sollen in Göttingen einem Journalisten zu Unrecht Gewalt vorgeworfen haben

  • Reimar Paul, Göttingen
  • Lesedauer: 3 Min.
Ein Kasseler Journalist wird wegen einer angeblichen Widerstandshandlung bei Antinaziprotesten 2005 in Göttingen angezeigt, gewinnt vor Gericht und verklagt nun seinerseits die Polizei.
Das Video ist etwas verwackelt, die Tonqualität nicht besonders. Ein Polizist beugt sich über eine am Boden liegende, korpulente Person. Von rechts schiebt sich ein Mann ins Bild, berührt den Beamten an der Schulter. Schnitt. Ein anderer Polizist drängt den Mann in ein Geschäft und gegen den Türrahmen. Der Mann ruft: »Lassen Sie mich los, ich bin Journalist!« Der Film entstand am 29. Oktober 2005 in Göttingen. Die NPD wollte an diesem Tag in der Universitätsstadt demonstrieren.

Tausende protestieren gegen Rechts. Auf dem geplanten Aufmarschweg der Neonazis brennen mehr als ein Dutzend Barrikaden. Die Polizei hat die Lage nicht mehr unter Kontrolle, die NPD muss ihre Demo abbrechen, zum Bahnhof zurückmarschieren. Von dort geht der freie Journalist aus Kassel gegen 14 Uhr zurück zu seinem Auto. Er beobachtet, wie Beamte eine Gruppe junger Leute stoppen, um deren Personalien zu kontrollieren. Sie bleiben stehen, nur ein junger Mann dreht sich um und will weggehen – es handelt sich um die eingangs erwähnte Person. Ein Beamter, schildert der Journalist die Situation, schlägt den Korpulenten mit der Faust gegen die die Brust und wirft ihn zu Boden. Hier beginnt das Video, mit dem Gerangel an der Ladentür endet es. Wie der Journalist festgenommen, in einen Bus verfrachtet und zu einer Gefangenensammelstelle gebracht wird, ist nicht mehr zu sehen. Erst gegen 18 Uhr kommt er frei – mit einer Anzeige wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Drei an dem Einsatz beteiligte Polizisten sagen aus, der Journalist habe die Identitätsfeststellung eines mutmaßlichen »Störers« gewaltsam behindert, sich seiner Festnahme widersetzt und einen der ihren verletzt – seine angeblich durch den Widerstand erlittene Fingerverletzung zeigt der betroffene Beamte erst Wochen später seinem Hausarzt an. Das Göttinger Amtsgericht lehnt die Eröffnung eines Prozesses gegen den Journalisten wegen zu dünner Beweislage ab, das Landgericht verwirft die Beschwerde der Staatsanwaltschaft, auch ein vom Innenministerium wegen der angeblichen Verletzung angestrengter Schadensersatzprozess geht zugunsten des Journalisten aus – die Richterin weigert sich, die Beamten überhaupt anzuhören.

Der Betroffene dreht den Spieß nun um und zeigt die drei Polizisten wegen falscher Verdächtigung an. Gestern standen die 48, 35 und 34 Jahre alten Männer aus Hannover deshalb vor dem Göttinger Amtsgericht. Obwohl Nazigegner ihre Barrikaden weit abseits des Zentrums aufgetürmt hatten, herrschte den Angeklagten zufolge am fraglichen Tag in der Fußgängerzone praktisch Bürgerkrieg. »Es war eine grundaggressive Stimmung«, sagt der beschuldigte Beamte Olaf K. »In Göttingen gab es schon immer ein erhebliches Gewaltpotenzial und Ausschreitungen«. Kollege G. spricht von »quasi militärisch« agierenden linksautonomen Kleingruppen. Gruppenführer Kai W., der den Mann zu Fall gebracht hat, bleibt dabei, dass er die Berührung durch den Journalisten gespürt und »als Angriff wahrgenommen« hat: »Wenn man eine Schutzweste, die wir tragen, nur locker berührt, dann würde ich das gar nicht merken«.

»Der wollte den Kollegen an der Festnahme hindern«, bekräftigt auch K. Auf dem Video, das sich der Betroffene erst im Verlauf der langen Verfahren beschafft hat, ist von einer Attacke oder Widerstandshandlung nichts zu sehen. »Ich habe den Polizeibeamten nur angefasst und gefragt, ›was soll denn das‹«, schildert der Journalist in seiner Aussage. Und er sagt auch, warum er sich überhaupt in das Geschehen eingemischt hat: In seiner Heimatstadt Kassel sei ein Mensch bei einer Festnahme ums Leben gekommen. »Ich hatte das Gefühl, dass die Gesundheit des mit der Faust geschlagenen Mannes in Gefahr ist.« Ein Urteil wurde erst für den Abend erwartet.
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