Gold rettete vor Zwangsräumung

ALG-II-Bedarfsgemeinschaft häufte unbewusst Mietschulden an, JobCenter war nicht zu sprechen

  • Martin Kröger
  • Lesedauer: 4 Min.

»Für Sie und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen sind folgende Änderungen eingetreten: Wegfall der Berücksichtigung der Miete aufgrund der vorliegenden Räumungstitel.« Gülayse Demir traute ihren Augen nicht, als ihr und ihrem Mann sowie den vier bei ihnen lebenden Kindern Anfang Juli das Schreiben vom JobCenter Reinickendorf ins Haus flatterte. Zwangsräumung? Die ALG-II-Empfängerin hatte zuvor zwar Mahnungen von der GESOBAU erhalten, die ihr die Wohnung im Märkischen Viertel in Berlin-Reinickendorf vermietet, aber diese hatte sie gleich zum JobCenter gebracht, um den Sachverhalt über die Mietrückstände klären zu lassen – genau wie die Einkommensbelege der Familie.

Aus der Sicht der 47-Jährigen war der Fall klar: »Das JobCenter hat seit Jahren entweder die Miete zu wenig überwiesen oder gar nicht.« Da sie Bewilligungsbescheide erhalten hatte, aus denen hervorging, dass die Miete direkt an die GESOBAU ging, war Demir sicher, dass die Mietzahlungen korrekt vom JobCenter abgewickelt werden. »Die GESOBAU sagte, die Miete kommt nur teilweise oder gar nicht, und das Jobcenter sagte, die Miete wird überwiesen.« Doch was stimmt, fragte sich die ALG-II-Bezieherin verzweifelt? Sie, die dieser Stress schwer belastet, versuchte die Schuldenproblematik direkt auf dem JobCenter Reinickendorf zu klären, dies scheiterte jedoch mehrfach. Der Sachbearbeiter war nicht zu sprechen.

So potenzierte sich laut Vermieter die Schuld für die Bedarfsgemeinschaft auf zuletzt 2219 Euro – worin auch Gerichts- und Anwaltskosten enthalten waren. Die GESOBAU erwirkte einen Räumungstermin mit einem Gerichtsvollzieher für den 2. August. In ihrer Not fiel Demir nichts anderes ein, als ihre Schwester auf ihren Hochzeitsschmuck anzupumpen, damit sie nicht mit ihrer Familie auf der Straße landet. Exakt 2200 Euro Darlehen gewährte ein Charlottenburger Pfandleihbetrieb für die sieben Goldarmreifen, wie eine Quittung ausweist. Mit dem Geld ließ sich die Räumung abwenden.

Sozialrechtsanwältin Ulrike Birzer, die die Demirs vertritt, sieht das Verhalten des JobCenters als skandalös an. »Seitdem ich die Familie seit Mai 2009 betreue, gab es noch keinen Bescheid, in dem die Leistungen korrekt berechnet wurden«, kritisiert sie. Dabei soll das JobCenter nach dem Gesetz die Leute beraten und Mietschulden als Darlehen übernehmen, wenn Wohnlosigkeit droht. Doch in diesem Fall, so Birzer, sei der Berater weder telefonisch noch persönlich zu sprechen gewesen. Und statt die Obdachlosigkeit zu verhindern, wie es die vornehmliche Aufgabe des JobCenters gewesen wäre, wird die Wohnungslosigkeit einer Familie mit zwei minderjährigen Kindern sogar bewusst in Kauf genommen, moniert die Anwältin.

Für die GESOBAU sind solche Probleme nichts außergewöhnliches. »Es gibt immer wieder strukturelle Probleme mit JobCentern«, bestätigt GESOBAU-Sprecherin Kirsten Huthmann. Insbesondere die halbjährigen Bewilligungen der Kosten der Unterkunft für die Betroffenen seien problematisch. Doch im Fall Demir gab es regelmäßige Zahlungen des JobCenters, die Mieterin sei darüber hinaus aber auch zu einem Eigenmietanteil von monatlich 40 Euro verpflichtet gewesen, so Huthmann. Diesen habe sie aber nicht entrichtet. Hintergrund sei offenbar eine mangelhafte Kommunikation mit dem JobCenter. »Die Mieterin wäre gut beraten, wenn sie stärker gegenüber dem JobCenter auftritt und Aufstellungen über die Miete verlangt«, meint Huthmann.

Das JobCenter wiederum räumt ein, dass es Probleme bei der Berechnung der »schwierigen« Einkommensverhältnisse der Demirs gegeben habe, die unregelmäßig gewesen seien. Das habe man aber jetzt mit zwei Korrektur-Bescheiden geklärt, sagt Detlef Neutzsch vom JobCenter Reinickendorf. Überdies will das JobCenter auch weiterhin die »tatsächlichen Kosten der Unterkunft« für die Wohnung der Demirs übernehmen. »Die laufenden Mietzahlungen werden erbracht«, sagt Neutzsch. Der dazugehörige Bescheid sei am Montag rausgegangen.

Gülayse Demir beruhigt diese Ankündigung zwar ein wenig. Doch ihr Vertrauen ins JobCenter ist nachträglich dahin – genau wie der Hochzeitsschmuck ihrer Schwester, den sie verloren glaubt. Einen Einzelfall stellen die Demirs indes nicht dar: Erst kürzlich wies die Gemeinnützige Gesellschaft für Verbraucher- und Sozialberatung Berlin (GVS) darauf hin, dass Erwerbslose in der Verschuldung versinken müssen, allein weil sie die hohen Energiekosten vom ALG-II-Regelsatz gar nicht zahlen können. Zudem wurden gestern die neuesten Zahlen der Senatsverwaltung für Soziales bekannt: Demnach wurden 2010 bereits 379 Bedarfsgemeinschaften in Berlin angewiesen, ihre Wohnungen zu verlassen, weil sie zu teuer sind.

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