»Ich habe alles verloren«

Millionen Pakistaner leiden unter dem anhaltenden Desaster ausgedehnter Überschwemmungen

  • Hilmar König
  • Lesedauer: 3 Min.
Bei der Überschwemmungskatastrophe in Pakistan ist keine Entspannung in Sicht. Seit dem 22. Juli sucht eine durch exzessive Monsunregenfälle ausgelöste Sintflut weite Teile des südasiatischen Landes heim und bringt Millionen Menschen Tod und Verderben.

Schreiende verzweifelte Frauen, die soeben vom Tod ihrer Angehörigen erfahren haben. Bettelnde Hände, sich nach Lebensmitteln ausstreckend, die von einem Armeelaster geladen werden. Hungrige weinende Kinder. Ein erschöpfter Mann in einer Wasserwüste, auf einem Bett treibend. Zwei Jungs bis zum Hals in der Flut, um eine Kuh mit vor Angst weit aufgerissenen Augen zu retten. Erschütternde Bilder, wie sie seit Wochen zum Alltag im Katastrophengebiet Pakistans gehören.

»Dies ist ein anhaltendes Desaster, weil die Flut sich ausbreitet und der Monsun andauert«, schätzte Martin Mogwanja, UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten in Pakistan, am Mittwoch die dramatische Lage ein. Zugleich zog der Sonderbotschafter für Pakistanhilfe des UNO-Generalsekretärs, Jean-Maurice Ripert, eine Zwischenbilanz: Mindestens 14 Millionen Pakistaner sind von der Jahrhundertflut betroffen, tausende Dörfer überflutet oder weggespült, hunderte Brücken, Brunnen und Bewässerungsanlagen zerstört. Und hunderte Kilometer Straßen existieren nicht mehr. »Milliarden Dollar werden für Rehabilitation und Rekonstruktion erforderlich sein, um Infrastruktur und Existenzgrundlagen wieder aufzubauen«, sagte Ripert. Premierminister Jusuf Raza Gilani äußerte, Pakistan sei in seiner Entwicklung um Jahre zurückgeworfen worden. Die Regierung bestätigte offiziell den Tod von 1243 Pakistanern. Aber die tatsächliche Zahl wird weit höher liegen. Mujahid Khan vom pakistanischen Edhi-Rettungsdienst teilte mit, dass allein im Nordwesten, der zuerst von den Überschwemmungen betroffen wurde, unaufhörlich weiter Leichen gefunden werden.

Fast 14 Millionen Menschen mussten ihre Siedlungsgebiete verlassen, in den vergangenen Tagen allein in der südlichen Provinz Sindh 1.5 Millionen. Vier Millionen Menschen sind obdachlos geworden, sechs Millionen brauchen dringende Unterstützung zum Überleben und vier Millionen Lebensmittelhilfe über mindestens drei Monate. »Ich habe alles verloren. In meinem Haus hatte ich 200 Kilo Weizen eingelagert. Das Wasser riss alles fort.« Ratlos steht Dil Aram Khan aus dem Dorf Pirpai im nordwestlichen Distrikt Nowshera vor dem Nichts. Auf nahezu 600 000 Hektar Farmland sind die Ernten vernichtet. Punjab, die »Kornkammer« des Landes, steht unter Wasser. Nichts ist mehr zu sehen von Mais, Reis, Zuckerrohr, Gemüse. Viele Plantagen der berühmten und weltweit begehrten Mangos sind verwüstet. In der Provinz Sindh rechnen die Agrarexperten mit enormen Ernteeinbußen, bei Reis um 20 Prozent, Baumwolle um 30, Chilli und Tomaten um 50 und bei Zwiebeln um 70 Prozent. Die Preise für Lebensmittel schossen in den letzten Tagen bereits in die Höhe, teils um das Vierfache wie bei Tomaten, Kartoffeln und Zwiebeln.

Pakistans Regierung arbeitet nach Auskunft von Premier Gilani an einem umfassenden Rehabilitations- und Rekonstruktionspaket und hofft weiter auf großzügige ausländische Assistenz. Und die UNO entwirft laut deren Sprecher Martin Nesirky einen Nothilfeplan, für dessen Verwirklichung mehrere hundert Millionen Dollar gebraucht werden. Die internationale Hilfe hinkt dem Bedarf noch beträchtlich hinterher und erfolgt bei weitem nicht so generös wie bei den Erdbeben 2005 in Pakistan und 2010 in Haiti oder 2004 beim Tsunami in Süd- und Südostasien – obwohl es sich um die schlimmste Überschwemmung und eine der verheerendsten Naturkatastrophen überhaupt handelt.

In dieser Situation meldete sich Azam Tariq, ein Sprecher der Tehrik-e-Taliban Pakistan, zu Wort und rief die Regierung in Islamabad auf, keine Auslandshilfe, vor allem nicht aus den USA anzunehmen, da dies »Unterwerfung« zur Folge habe. Die Gelder würden ohnehin nicht die Bedürftigen erreichen, sondern »in den Taschen korrupter Herrscher verschwinden«. Hamid Gul, früher Chef des Geheimdienstes ISI und nicht gerade US-freundlich eingestellt, konterte Tariq und erklärte: »Wenn sie in den Überschwemmungsgebieten operieren, lasst sie Hilfe leisten.« Diese US-Amerikaner würden ja keinen Krieg führen.

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