Es war eine große Unschuld

Isidoro Bustos über den Jubel der Massen und seine Sorgen damals

  • Lesedauer: 4 Min.
Der chilenische Jurist, Jahrgang 1937, lebt in seiner Wahlheimat Berlin. ND-
Der chilenische Jurist, Jahrgang 1937, lebt in seiner Wahlheimat Berlin. ND-

ND: Wie haben Sie am 4. September 1970 Allendes Wahlsieg gefeiert?
Bustos: Die Genossen im Viertel von Santiago, in dem ich damals wohnte, suchten mich auf und haben mich aufgefordert mitzukommen, um den Sieg gemeinsam in der Stadt zu feiern. Ich sagte: »Ich komme nach. Ich habe noch etwas zu erledigen.« Das stimmte nicht. Ich wollte an diesem Tag allein sein mit meiner Frau. Denn ich hatte ein zwiespältiges Gefühl. Da war die große Freude, dass wir gewonnen haben, zugleich aber auch große Sorge: Was kommt jetzt? Wann werden die Rechten zu ihrem ersten Schlag gegen uns ausholen? Etwas später kamen Genossen mit derselben Sorge zu mir. Es gab eine große Unschuld unter den Menschen. Der Jubel war unendlich. Berechtigt. Aber er hat uns unvorsichtig sein lassen.

Mit 33 Jahren sind Sie bereits Ministerialdirektor in Allendes Justizministerium geworden.
Ja, ich war Planungschef unter allen drei Justizminister, auch unter Sergio Insunza, einem sympathischen Kommunisten. Ich war Mitglied der Sozialistischen Partei. War! Denn eine neoliberale sozialdemokratische Partei ist nicht mehr meine Partei.

Aber eigentlich wollte ich damals kein offizielles Amt besetzen.

Warum nicht?
Weil ich wusste, dass die entscheidende Arbeit nicht in den Büros geleistet wird, sondern in der Bevölkerung. Aber da es dann einen Mangel an qualifizierten Kräften gab, konnte ich mich nicht verweigern, Verantwortung in der Bürokratie zu übernehmen.

Wie kam es zum Mangel? Der Staatsapparat ist ja leider eben nicht von reaktionären Kräften befreit worden.
Allende hat niemanden entlassen. Aber viele alte Bürokraten wollten nicht unter der Regierung der Unidad Popular arbeiten. Ein arabisches Sprichwort sagt: Wenn deine Feinde fliehen, bau ihnen eine silberne Brücke.

Und doch saßen gerade auch im Justizwesen noch genug von jenen, die Allendes Politik sabotierten.
Ja, die Justiz war ein starker Arm der konservativen Schichten der Gesellschaft. Sie war ein In-strument, um von der Regierung verabschiedete soziale Gesetze umzuinterpretieren zu Gunsten der Unternehmer. Das war auch schon vor Allende so.

Wurden auch Sie mit solch reaktionären Kräften konfrontiert?
Mehrfach. Gleich zu Beginn meiner Arbeit im Justizministerium habe ich einen Vorschlag gemacht, wie wir den Übergang zum Sozialismus unterstützen könnten. Da kam eines Tages der Präsident des Obersten Gerichts ins Ministerium. Er wolle den Minister sprechen. Doch weder er noch sein Staatssekretär waren im Haus. Darum habe ich habe den Präsidenten empfangen. Er dachte, ich wäre eine Bürokraft. Er war richtig erschrocken, als ich mich hinter den Schreibtisch des Ministerialdirektors für Planung setzte. Ich war ihm zu jung, in seinen Augen fast noch ein Kind. Er musste aber mit mir vorliebnehmen.

Eine sozialistische Justiz aufzubauen, gelang nicht. War die Zeit zu kurz, die der Volksfrontregierung beschieden war?
Ja. Und wir waren viel zu stark mit tagespolitischen Geschehnissen beschäftigt, konnten unsere vielen Vorhaben, neue Gesetze auszuarbeiten, nicht umsetzen.

Was verstehen Sie unter sozialistischer Justiz und sozialistischer Gesetzlichkeit?
Sozialistische Justiz bedeutet, die Gesetze nicht nach Konjunktur zu interpretieren, sondern ein stabiles Rechtssystem zu wahren, in dem die Pflichten und Rechte eines jeden Menschen, unabhängig von seinem Stand, respektiert werden. Und das bedeutet ein Rechtssystem, das die pluralistische Struktur der Gesellschaft respektiert. Also auch die politisch Andersdenkenden. Denn nicht alle Menschen werden Sozialisten und Marxisten sein. Selbst dann nicht, wenn der Sozialismus eines Tages Weltsystem geworden ist.

Daran glauben Sie?
Aber natürlich.

Der Sozialismusversuch in Chile wurde in einem Blutbad erstickt.
Ja. Ich hatte Glück im Unglück – zwei Mal. Eine dritte Verhaftung wollte ich nicht riskieren. Ich bin 1975 ins Exil gegangen, nach Westberlin, wo ich dann an der Freien Universität arbeiten konnte.

Wir waren an der Regierung, aber wir hatten nicht die Macht. Das ist ein Unterschied. Präsident Allende war nicht so frei, alles so zu machen, wie er es wollte. Und es wurden riesengroße Fehler gemacht. Die ganze Führung der Unidad Popular trägt Verantwortung für die Niederlage. Sie hat geglaubt, dass die demokratische Tradition in Chile stabil sei, die Demokratie unantastbar, unangreifbar. Es wurde nicht beachtet, dass die Demokratie von bestimmten Kräften nur so lange geachtet wird und unangetastet bleibt, wie sie das Privateigentum an Ressourcen und Produktionsmiteln sowie die Freiheit der Wirtschaft garantiert. Wir haben in deren Augen ein Sakrileg begangen.

Gespräch: Karlen Vesper

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