Schöne Scherben aus Kahla

Das Thüringer Porzellan ist heute bekannter für Innovation und Provokation als für Stroh- und Zwiebelmuster

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 6 Min.
Mit Innovationen wie diesen haben die beiden Neueigentümer Günther Raithel und sein Sohn Holger Raithel die Traditionsfirma aus der DDR inzwischen unter die fünf umsatzstärksten deutschen Porzellan-Produzenten geführt.
Mit Innovationen wie diesen haben die beiden Neueigentümer Günther Raithel und sein Sohn Holger Raithel die Traditionsfirma aus der DDR inzwischen unter die fünf umsatzstärksten deutschen Porzellan-Produzenten geführt.

Als die Mauer fiel, ging es Kahla wie Oscar Wilde: »Es fällt mir jeden Tag schwerer, auf dem hohen Niveau meines blauen Porzellans zu leben.« Das Kombinat, zu dem der VEB Feinkeramik im Städtchen an der Saale, am Fuße der Leuchtenburg und im Dunstkreis von Jena, gehörte, hatte 18 000 Beschäftigte, aber keine rechte Zukunft: Die Arbeitsbedingungen an den Brennöfen Kahlas erinnerten an Menzels »Walzwerk«, das Stroh- und Zwiebelmuster war Klassiker, doch kein Garant für morgen und der sowjetische Markt, der drei Viertel der Produktion von Kahla verschluckte, war wacklig: schwere Tassen, bullige Teller, viel Dekorgold – von glänzenden Aussichten für die Erben Christian Eckardts, der 1844 das erste Porzellan in Kahla hergestellt hatte, konnte keine Rede sein.

Branche sank, Kahla wuchs

Im 300. Jahr von Europas Porzellan – Böttger hatte Anfang 1710 in Meißen, als erster auf dem Kontinent, das »weiße Gold« entwickelt – ist die Situation der Branche nicht einfacher. Doch ein näherer Blick zeigt Unterschiede: Während der Umsatz der deutschen Porzellan-Industrie angesichts der Billigimporte aus Fernost in den letzten knapp zwei Dekaden um fast die Hälfte zurückging, »hat sich der Umsatz von ›Kahla‹ in derselben Zeit verdoppelt«, wie der heutige Geschäftsführer Holger Raithel beim Gespräch in der Firma vorrechnet.

Der 38-jährige Diplom-Physiker (Oberfranke aus Marktredwitz) ist mit Vater Günther Raithel Eigentümer. Wichtiger: Beide sind Retter von Kahla. Ohne sie, die 1994 einen ausgelaugten Betrieb übernahmen, gäbe es heute kaum mehr Porzellan aus Kahla. Erst recht keine GmbH, die bisher 69 internationale Designpreise gewann und als Trendsetter der Branche gilt. Angelika Lettke (57), seit 1979 im Betrieb und seit fünf Jahren Leiterin des Dekorbetriebes, sagt, ohne die Veränderungen, die mit Familie Raithel begannen, hätte »Kahla« keine Chance gehabt. »Das Branchenverständnis der Familie war maßgebend: Die Produktpalette wurde überarbeitet, und es gab viele Innovationen.« War »Kahla« zu DDR-Zeiten im Osten sehr bekannt, schafften es die Raithels, »den Namen in der ganzen Welt bekannt zu machen«, so Lettke.

Günther Raithel (70) hatte den Betrieb 1994 aus Konkurs und vorangegangener Treuhandpleite geholt und bis 2005 geführt. Seitdem ist Sohn Holger Chef. Vor zehn Jahren übernahm die Familie vom Land Thüringen die restlichen Unternehmensanteile.

Raithel junior sieht in der geglückten Balance aus Beharren und Verändern eine Ursache für den Erfolg. »Veränderungsbereitschaft ist zwingend im Sinne eines wachen Verständnisses für den Markt und sich wandelnde Kundenwünsche. Beharrung braucht es für die Strategie, für die große Linie. Bei uns sind nirgendwo indische Kinderhände im Spiel, das sind unsere Beharrungspunkte.«

Raithel lässt keinen Zweifel, dass für ihn und den Vater, der im bayrischen Selb mit dem sozialdemokratischen Porzellanunternehmer Philip Rosenthal gearbeitet hatte, Veränderung obenan stand. »Wir bekennen uns zu Stroh- und Zwiebelmuster, und wir schätzen unsere Firmenwurzeln. Doch wir sind auf Innovation gepolt. Wir wollen Kundenwünsche mit erschwinglichen Lösungen erfüllen und Trends setzen.« Inwischen hat der Betrieb mit 300 Mitarbeitern einen Platz unter den fünf umsatzstärksten deutschen Porzellan-Produzenten erreicht – nach Villeroy & Boch, Rosenthal, Seltmann und Meissen.

Beim Einstieg der Raithels, so der Chef, habe es viele Probleme gegeben. Aber: »Vater wusste, Kahla besaß ein entscheidendes Kapital – seine Belegschaft. Deshalb übernahm er seinerzeit auch die bestehende Führungsmannschaft.« Angelika Lettke erinnert sich, dass die Kollegen damals skeptisch waren, weil viele bis dahin mit Investoren aus dem Westen schlechte Erfahrungen gemacht hatten. »Doch Günther Raithel gewann unser Vertrauen.« Der 18-jährige Kahlaer Felix Müller, seit Februar im Betrieb in Ausbildung zum Industriekeramiker, kennt das nur vom Erzählen. Ohne die Porzellanfabrik, vermutet er, hätte er keinen Ausbildungsplatz bekommen, »jedenfalls nicht in Kahla«. Er fände es »toll« übernommen zu werden, und sagt, ihn habe es nie gestört, dass der Chef Wessi ist. »Ob jemand aus dem Osten oder Westen kommt, ist für mich egal. Als ich geboren wurde, war die Mauer längst weg.«

Eine andere große Herausforderung sah die Firmenspitze damals in sich ändernder Ess- und Tischkultur. Holger Raithel: »Es gibt heute mehr Singles, mehr Patchwork-Familien und mehr Pasta, überhaupt mehr kulinarische Einflüsse aus aller Welt auf deutsche Küchen und Gaumen als zu Böttgers und Eckardts Zeiten.« Nach dem Speiseservice für zwölf Personen werde nur noch selten gerufen. Mit der Kollektion »Update« erzielte die Firma 1998 den ersten Durchbruch am Markt. Es war ein Durchbruch im Design, der den Umbruch der Lebensweise berücksichtigte: Etwa die Erkenntnis, dass der Verbraucher nicht die x-te neue Kaffeekanne will – sondern überhaupt keine mehr im Zeitalter der Kaffeemaschine. Designerin Barbara Schmidt brachte flexibles, multifunktionales Geschirr auf den Tisch. Übersichtlich, kombinier- und stapelbar und nicht auf eine Funktion beschränkt. Das Dipschälchen kann sowohl Unterteller als auch Deckel sein, aus der Milchkaffeeschale kann man auch Reis oder Müsli essen.

Der nächste Durchbruch kam später auf dem Feld der Technologie. So entwickelte und patentierte »Kahla« das weltweit erste Porzellan mit samtweicher Oberfläche. »Touch« heißt die Linie für ein besonderes Berührungserlebnis. Es ist spülmaschinen- und mikrowellenfest und mehrfach preisgekrönt. Die filzartige Beschichtung isoliert gegen zu viel Wärme.

Inzwischen arbeiten die Kahlaer »an einem neuen Konzept der Tischkultur«, wie Raithel etwas rätselhaft formuliert, weil er vor der nächsten Branchenmesse keine Geheimnisse verraten will. Beim Gang entlang der Glasurstrecken, Brennöfen und Lager ahnt der Besucher immerhin, dass »Kahla« das Baukastenprinzip, also die multifunktionalen Formen von Haushaltsgeschirr ausbauen dürfte. Essteller mit zugleich glatten und geriffelten Oberflächen? Platzteller aus Holz unter Esstellern aus Porzellan? Klare Tassenkörper von heute, mit Henkeln aus Barock oder Jugendstil? Familie Raithel stellt weiter Geschirr mit dem Stroh(Blau Saks)- und Zwiebelmuster her und versucht zugleich, erfinderisch zu sein.

Junge Kunst trifft altes Material

Die Firma liebt das Experiment. Vor wenigen Wochen fand der 5. internationale Porzellan-Workshop statt. Vier Wochen stellte der Betrieb zwölf jungen Künstlern (150 hatten sich beworben) aus neun Nationen nicht nur Kost und Logis, sondern auch Material und Arbeitsräume, Rat und Hilfe von Modelleuren und Facharbeitern und nicht zuletzt alle technischen Anlagen zur Verfügung. Der weit gefasste, nicht auf Tassen und Teller gerichtete Auftrag lautete: Visionen für den Werkstoff Porzellan. Von den Ergebnissen ist Raithel so angetan, dass vermutlich schon bald die eine oder andere Anregung auf deutschen und internationalen Tischen landen wird – ganz im Sinne von Porzellan-Altmeister Philip Rosenthal: »Wer zu spät an die Kosten denkt, ruiniert sein Unternehmen. Wer zu früh an die Kosten denkt, tötet die Kreativität.«

»Kuschelporzellan« ist der letzte Schrei aus Kahla. Das Porzellan ist weich und griffig und kann trotzdem in die Spülmaschine.
»Kuschelporzellan« ist der letzte Schrei aus Kahla. Das Porzellan ist weich und griffig und kann trotzdem in die Spülmaschine.
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