nd-aktuell.de / 11.09.2010 / Kommentare / Seite 24

Die Lüge vom »deutschen« Blut

Vor 75 Jahren beschloss der faschistische Reichstag in Nürnberg die Rassengesetze

Kurt Pätzold

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts waren in den deutschen Teilstaaten, in einem früher, in anderen später, Gesetze oder Gesetzesartikel gefallen, welche die Bürger jüdischen Glaubens unter ein Sonderrecht gestellt hatten. Als das Deutsche Reich Bismarcks 1871 gegründet und ihm eine Verfassung gegeben ward, galt der Rechtsgrundsatz der Gleichheit von Juden und Nichtjuden, wenn es an seiner Wahrung mitunter auch haperte und der Kampf um seine Einhaltung wie gegen jede Form des Antisemitismus seine aktiven Verfechter nur in der Arbeiterbewegung, in demokratischen Kleingruppen und einzelnen Personen besaß.

Einschneidende Veränderungen

Das Dritte Reich machte dem ein Ende. Das geschah am 6. April 1933 mit dem von der eben dazu ermächtigten Regierung beschlossenen Gesetz, das den beirrenden Titel »zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« erhielt. Es bestimmte die Entfernung der wenigen sozialistischen, treu republikanischen und mit ihnen alle jüdischen Beamten und Angestellten aus allen Ebenen des staatlichen Apparats. Damit wurde eine Norm vorgegeben, die alsbald weit in die sich faschistisch wandelnde Gesellschaft wirkte und das Leben der Juden in den Reichsgrenzen zunehmend und einschneidend veränderte. Nicht nur dass an städtischen Theatern vom Regisseur bis zum Bühnenarbeiter, an Universitäten vom Hochschullehrer bis zum Labortechniker, an städtischen Krankenhäusern vom Chefarzt bis zum Pfleger Juden ihre Arbeitsplätze zur räumen hatten, auch in anderen Bezirken der Gesellschaft »verschwanden« Juden, so aus Aufsichtsräten und Vorständen von Banken, Versicherungen und industriellen Unternehmen, wo sie die Geschäfte mit den neuen Machthabern störten. Manche wurden auch auf hinteren Plätzen »versteckt«, so dass aus einem Prokuristen ein Angestellter auf minderen Platze wurde. Ähnliches geschah außerhalb der Arbeitswelt. Gesellschaften, Organisationen und Vereine entfernten Juden aus ihren Leitungen oder gar ganz aus den Mitgliederlisten. Es begann ein schleichender Prozess der Isolierung der jüdischen Deutschen in der Gesellschaft, in der sie und Generationen ihrer Vorfahren gelebt und in die sie hineingewachsen waren. Was mit ihnen geschah, hatte vor Kurzem noch ihr Vorstellungsvermögen überstiegen. Viele verstanden auch jetzt nicht, warum und wie es vonstatten gehen konnte.

Vor dem Folgenden sind die frühen Schikanen und Leiden der deutschen Juden verblasst. Das sollten sie jedoch im Geschichtsbild der Deutschen auch nach Jahrzehnten nicht. Denn sie stehen für die Anfänge, denen zu wehren war und denen angesichts des noch ungefestigten Naziregimes auch folgenlos hätte gewehrt werden können. Vorausgesetzt, Verstand und Anstand und nicht Hilflosigkeit, Gleichgültigkeit und Unterwürfigkeit würden unter denen geherrscht haben, die keine Nazis waren. Das taten sie aber nicht.

Eine Minderheit der Verfolgten reagierte mit der Flucht aus Deutschland. Nach Schätzungen waren das im ersten Jahr der Diktatur etwa 30 000 bis 35 000 Personen. Deutschland erlebte einen Aderlass an herausragenden Persönlichkeiten und hochqualifizierten Kräften ohne Beispiel. Nur die Namen der Bekanntesten haben sich dem »nationalen Gedächtnis« über Generationen eingeprägt: Albert Einstein und Max Born, Lion Feuchtwanger und Arnold Zweig, Max Reinhardt und Alexander Granach, insgesamt nicht mehr als etwa ein Dutzend. Die Zahl der Deutschland Fliehenden wäre größer noch gewesen, hätten dem nicht Hindernisse entgegengestanden. Zu den Inneren gehörten die emotionalen Bindungen an dieses Land, von dem nahezu einhundert Jahre zuvor ein Jude gesagt hatte: »Deutschland ist unser Vaterland, wir haben kein anderes.« Und Bindungen an Verwandte und Freunde, auch an das nicht transferierbare Eigentum. Dazu traten äußere Hindernisse: die ungewisse Zukunft in der Fremde, restriktive Einwanderungsquoten und -bedingungen, mit denen Staaten den Zustrom von Flüchtlingen unterbanden oder strikt begrenzten. Und zu alledem der Glaube, es werde so ganz schlimm nicht kommen und vorübergehen. Er führte sogar dazu, dass Juden, die sich zunächst jenseits der deutschen Grenzen in Sicherheit gebracht hatten, wieder an ihre bisherigen Plätze zurückkehrten.

Alle Schritte der Benachteiligung von Juden, mit denen ihre Vertreibung ins Ausland begann, wurden vor der eigenen Bevölkerung und dem Ausland mit verlogenen Begründungen gerechtfertigt. Diese blieben vorerst noch unterhalb des von den Naziideologen verfochtenen rassistischen Antijudaismus und deutlich hinter den absurden Thesen der judenfeindlichen Propaganda, die in Wort und Schrift in Deutschland verbreitet wurde, ohne dass ihr jemand öffentlich hätte widersprechen können.

Noch wurde die Praxis des Antisemitismus von staatswegen mit Behauptungen begründet, aus denen sich Hoffnungen auf einen gemäßigten und abflauenden Judenhass nähren ließen: Die Juden hätten auf das Leben in Deutschland einen übermächtigen fremden Einfluss ausgeübt, der reduziert werden müsse. Oder – im Frühjahr 1933 – sie würden das Ausland mit Gräuelmeldungen über das »neue Deutschland« versorgen und ihm, weil sie dort antideutsche Kräfte mobilisierten, schaden. Diese Argumente, so haltlos sie waren, bewegten sich auf politischer Ebene. Sie suchten, sich in einer jahrhundertealten Traditionslinie bewegend, glaubhaft zu machen, die Juden hätten die Behandlung selbst verschuldet, die sie erführen, und also stände es in ihrer Macht, das zu ändern. Diese Lügen verschleierten das unaufgegebene strategische Vorhaben, Deutschland »judenfrei« zu machen. Es half die Vorstellung bilden, die antijüdische Politik der Machthaber werde auf einer bestimmten Stufe zum Halt kommen.

Die Verabschiedung der Vernunft

Die am 15. September 1935 vom Reichstag, der während des NSDAP-Parteitages in Nürnberg zusammengetreten war, beschlossenen Rassengesetze, das »Reichsbürgergesetz« und das »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«, sowie das am 18. Oktober folgende »Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes« zerstörten dieses Wunschbild. Sie glichen die Gesetzgebung der Ideologie und Propaganda an, jener skrupellosen Hetze gegen die Juden, deren Wortführer die Wochenzeitung »Der Stürmer« war. Nun wurde in Artikel und Paragraphen gegossen, was der braune Mob schon vor 1933 auf Deutschlands Straßen gebrüllt hatte:

Die Religion sei einerlei, im Blut der Juden liege »die Schweinerei«. Von da an und davor gab es kein Entrinnen mehr, keine Berufung auf ein früheres Verdienst, kein Wohlverhalten des Augenblicks. Wie in Lessings »Nathan« war jedes Argument zugunsten der Juden oder auch nur eines Einzelnen von ihnen hinfällig und abgetan. Wer es vorzutragen wagte, dem wurde nicht nur wie dem Tempelritter abwehrend geantwortet »Tut nichts!«. Er galt selbst als »verjudet« oder als ein »Judenknecht«. Durch das Reich waberten die Schwaden der faschistischen Inquisition. Die Hinnahme dieser Nürnberger Gesetze bedeutete die Verabschiedung der menschlichen Vernunft.

Ihr Inhalt ist bekannt: Den zu Besitzern des deutschen Blutes erklärten Mehrheit der Deutschen und der Minderheit der zu Trägern jüdischen Blutes erklärten jüdischen Deutschen wurde die Eheschließung und jeder Geschlechtsverkehr mit »Ariern« verboten. Die jüdischen Männer diffamierend wurde bestimmt, dass Nichtjüdinnen in deren Haushalten nicht länger beschäftigt werden durften. Alle sogenannten Mischehen wurden zur Sünde wider das Blut und stellten deren nichtjüdische Partner außerhalb der Volksgemeinschaft.

Jene, die hinnahmen, dass sie als Träger des »deutschen Blutes« formiert wurden, waren ein Stück weiter und mehr zu Instrumenten eines Regimes gemacht, dessen Opfer am Ende auch Millionen von ihnen wurden.