Wahrlich nicht alternativlos

Was ein Buch über die »Deutsche Einheit« verschweigt

  • Günter Benser
  • Lesedauer: 4 Min.

Von einem Buch mit dem Titel »Deutsche Einheit« darf erwartet werden, dass die Wurzeln der Problematik von Einheit und Spaltung ergründet werden. Das sind indes für den Autor keine Themen. Dass die Reichseinheit 1871 nicht durch eine Volksbewegung, sondern durch eine Revolution von oben geschaffen worden ist, wird nicht erwähnt. Der nach Weltherrschaft strebende Hitlerfaschismus samt seiner Hinterleute als ursächliche Zerstörer des unter Bismarck staatlich geeinten Deutschen Reiches fehlen. Die nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus in allen Besatzungszonen und bis ins bürgerliche Lager hinein nachweisbare antikapitalistische, zumindest kapitalismuskritische Grundströmung und die darauf fußenden Konzepte für eine neue deutsche Republik sind dem Autor nicht der Rede wert. Die nicht völlig chancenlose Alternative eines neutralen entmilitarisierten Deutschlands im Ergebnis eines Friedensvertrages ebenso wenig. Auch nicht die gravierend unterschiedlichen Startbedingungen in Deutschland-West und Deutschland-Ost, das Vorpreschen des Westens mit separater Währungsreform und die Vorbereitung einer Bundesrepublik unter Ausklammerung der Ostzone etc. Von der Deutschlandpolitik der Bundesregierungen ist nur am Rande die Rede.

In den beiden ersten Kapitel, von denen der Leser eigentlich eine Darstellung der deutschen Frage in den Jahren des Kalten Krieges erwarten dürfte, benennt Robert Grünbaum, stellvertretender Geschäftsführer der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die von den Alliierten gesetzten Ausgangspositionen; hauptsächlich rechnet er jedoch mit der DDR ab. Diese finden wir fast ausschließlich als politisches System vorgeführt, an dem es berechtigt viel zu kritisieren gibt. Aber die DDR war eben mehr, ihrer Entwicklung lag ein Gesellschaftsentwurf zu Grunde, sie verstand sich als eine sozialökonomische Alternative zum real existierenden Kapitalismus, hier verwirklichten sich spezifische Lebenszusammenhänge der Menschen. Wenn dem nicht so wäre, müsste im Schlussteil des Buches nicht so sehr nach Erklärungen für die gegenwärtige Denk- und Verhaltensweisen der Bevölkerung in den neuen Bundesländern gesucht werden.

Was im Hauptteil des Buches folgt, ist eine detaillierte, in den Proportionen ausgewogene Beschreibung des Geschehens vom Sommer 1989 bis zum 3. Oktober 1990, die alle Gewinner der deutschen Einheit und alle Obrigkeitsgläubigen zufriedenstellen wird. Ob die »friedliche Revolution« auch dem deutschen Westen etwas zu sagen gehabt hätte, ist für den Autor keine des Nachdenkens werte Frage. Das Beste in diesen Passagen ist die Analyse des Parteienspektrums und der Märzwahlen. Hier finden wir realistische Einschätzungen der Kräfteverhältnisse, der politischen Optionen und der mentalen Befindlichkeit. Die massive Einflussnahme westdeutscher Parteien und Politiker wird nicht verschwiegen.

Auch in den anschließenden Teilen tauchen bei bestimmten Schlüsselereignissen vom Bonner Kurs abweichende Standpunkte und Initiativen auf. Dies dient aber letztlich dem Zweck, die sich durchsetzende Variante Artikel 23 Grundgesetz, frühe Währungsunion und »Einigungsvertrag« plus außenpolitische Absicherungen als alternativlos hinzustellen. Die schlimmen Folgen dieser Sturzgeburt werden vor allem dem maroden Zustand der DDR zugeschrieben und Fehlentscheidungen als verzeihliche, dem Tempo geschuldete Missgriffe eingestuft.

Der letzte, »Das vereinigte Deutschland« überschriebene Teil, lobt das Errungene und die Fortschritte in den neuen Bundesländern – davon gibt es gewiss nicht wenig –, und stellt sich vor allem der Aufgabe, die Verlierer der deutschen Einheit mit ihrer Lage auszusöhnen.

Zu den nicht thematisierten Tatbeständen gehören die mit Überwindung des »Realsozialismus« in der erweiterten Bundesrepublik eingetretenen Veränderungen. Nicht ausgesprochen wird, dass sich in der »Berliner Republik« die politische Achse nach rechts verschoben hat, dass ein entfesselter Kapitalismus eine Generaloffensive gegen den Sozialstaat und gegen die Rechte der Lohnabhängigen eröffnen konnte, dass eine Militarisierung der Außenpolitik stattgefunden hat und anderes mehr.

Wirklich Neues vermag dieses Buch nicht zu bieten. Das darf aber auf solch einem häufig beackerten Feld der Geschichte auch nicht erwartet werden, jedenfalls nicht, solange die unterhalb der offiziellen Ebene und der öffentlichen Politik angesiedelten Aktivitäten und Eingriffe staatlicher Behörden, von Geheimdiensten, von Parteiapparaten usw. verschlossen sind.

Robert Grünbaum: Deutsche Einheit. Ein Überblick 1945 bis heute. Metropol Verlag. 206 S., br., 19,90 €.

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