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Geist auf leisen Sohlen

HELMUT SEIDELS GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE

  • Hermann Klenner
  • Lesedauer: 4 Min.

Von Helmut Seidel, dem Philosophen unter den Philosophieprofessoren der DDR, konnte man viel lernen. Vor wie nach 1989/90. Und kann es noch nach seinem Ableben. Wer seine nun endlich publizierten Texte über die berühmtesten Aufklärungsdenker des 17. und 18. Jahrhunderts liest, begreift, warum die einstigen Vorlesungen des Autors an Leipzigs Universität fachübergreifend geachtet waren. Wie wenige Jahrzehnte zuvor – wenn auch auf andere Weise – die von Ernst Bloch. Aber ungleich diesem Feuerkopf trat dessen Nachfolger im Amt seinen Hörern und Lesern auf leisen Sohlen entgegen. Er bot – und bietet nun – seine kleinen und großen Wahrheiten ganz unprätentiös. Es wird zum Nachdenken über Vorgedachtes eingeladen. Was Philosophen zu vermitteln haben, muss auch allgemeinverständlich gesagt werden können, zitierte Seidel zustimmend Leibniz. Er selbst beherrschte diese Kunst wie wenige.

Nun waren die Aufklärer zwar alle am Selbstverständigungsprozess der antifeudalen Klassen über ihre Interessen beteiligt, und insofern gehörten sie alle zu den Vordenkern der sich später (gegen ihren Willen!) in Revolutionen etablierenden bürgerlichen Gesellschaft in Europa und anderswo, aber deswegen waren sie noch lange nicht in allen wichtigen Dingen ein- und derselben Meinung. Wie übrigens auch heutzutage, haben sich die Mitstreiter von damals zuweilen mehr untereinander gestritten als mit ihren eigentlichen Gegnern. Voltaire hat seine gekonntesten Sottisen über Leibniz und Rousseau ausgegossen; Spinoza, mit dem sich niemand zu solidarisieren wagte, zieh Bacon fundamentaler Irrtümer; Hobbes und Locke waren sich nicht grün; Leibniz kritisierte Locke eine ganze dicke Abhandlung lang; Diderot meinte, dass Descartes nicht nur geboren sei, um zu führen, sondern auch um irrezuführen.

Es ist schon ein kleines Wunder, über diese Großdenker ein lesbares, allgemeinverständliches Büchlein zustande zu bringen, eine Gesamtdarstellung auf nicht einmal 300 Seiten, zumal von deren Lesern nicht erwartet werden kann, dass sie die Primärtexte kennen, von der ganze Bibliotheken füllenden Sekundärliteratur ganz zu schweigen.

Bacon hielt Metaphysik wie die Suche nach allerletzten Ursachen für so unfruchtbar wie eine gottgeweihte Jungfrau, während Leibniz sich sein ganzes Leben lang mit der Notwendigkeit einer (dialektischen) Metaphysik plagte; für Spinoza gehörte die Denk- und Glaubensfreiheit zu den allerhöchsten Werten, während John Locke zwar argumentenreich für die Toleranz von Andersdenkenden eintrat – vorausgesetzt jedoch, sie waren weder Katholiken noch Atheisten; Leibniz setzte Denken mit Kalkulieren gleich, wofür weder Voltaire noch Rousseau und nicht einmal Descartes Verständnis aufbrachten. Es gehört zu den Meisterleistungen des Autors, die spezifische Bedeutung eines jeden seiner Helden nachvollziehbar gestaltet und so für einen jeden von ihnen Verständnis geweckt zu haben.

Seidel urteilt, aber er verurteilt nicht. Sein sorgfältiges Auseinanderhalten der verschiedenen Begriffe von Aufklärung gestattet ihm, eine Brücke zu schlagen, über die alle an wirklicher Gesellschaftsveränderung im damaligen Europa hätten gehen können. Denn alles sagen, aber nichts verstehen zu können, und nichts verändern zu dürfen, hat mit Aufklärung nichts zu tun!

Als besonders wichtig erweist sich der Aufklärungsbegriff bei Rousseau. Insofern ist das diesem sensibelsten aller Philosophen gewidmete Anhangskapitel der Höhepunkt des ganzen Unternehmens. Wer nämlich eine rationalistische oder empiristische Denkweise, wie sie bei Descartes bzw. bei Bacon vorliegt, für eine unerlässliche Voraussetzung eines Aufklärers hält, hat es schwierig, Rousseau solch einen Ehrentitel zuzubilligen. Und ausgerechnet derjenige, von dem ein Zeitgenosse sagen konnte, dass ohne den »Contrat social« von 1762, mit dem später Walter Markov die Chronologie der Großen Französischen Revolution einleitete, die Bastille immer noch stünde, wäre dann seines Ruhmes beraubt. Einerseits haben dogmatische »Marxisten« den »Gesellschaftsvertrag« als eine Rechtfertigung der Klassenherrschaft der Bourgeoisie verunglimpft, obwohl doch Rousseau gefordert hatte, dass kein Staatsbürger so reich sein dürfe, um sich einen anderen kaufen zu können, und keiner so arm, um sich verkaufen zu müssen. Und andererseits ist es in den letzten Jahrzehnten gang und gäbe geworden, Rousseau zu bezichtigen, den Weg für Hitler und Stalin frei gedacht zu haben! Seidel hingegen belegt überzeugend, dass dieser viel Gescholtene in der ersten Reihe derer steht, die den Boden für die heraufziehende bürgerliche Gesellschaft bereitet und zugleich mit ihrer Privateigentums-, Zivilisations- und Kulturkritik über sie hinausgewiesen hat.

Dem Band ist von der Herausgeberin ein Kapitel vorangestellt worden, das vom Autor vor 30 Jahren schon einmal wortwörtlich publiziert worden ist. Der Autor selbst hielt nichts von Historikern, die bei Wenden und Wendungen ihre bisherigen Ansichten Knall und Fall preisgeben. »Entweder man hat es damals nicht ernst gemeint oder man nimmt es heute nicht ernst.« Wie recht hatte er mit diesem Bekenntnissatz.

Ein kritischer Hinweis für kommende Auflagen: Das Literaturverzeichnis bedarf dringend der aktualisierenden Ergänzung, und eine Zeittafel, wie sie in den vorangegangenen Bänden als Anhang geboten wurde, sollte nicht eingespart werden.

Helmut Seidel: Von Francis Bacon bis Jean-Jacques Rousseau. Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie. Bd. 4. Hg. v. Jutta Seidel. Karl Dietz Verlag. 260 S., br., 9,90 €.

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