Die Realität ist das beste Theater

Gespräch zu »Zeugenstand« mit Andreas Dresen

  • Lesedauer: 10 Min.
Am 5. Juni hat in Berlin am Deutschen Theater »Zeugenstand« Premiere, ein Stück von Andreas Dresen über die »Bewegung 2. Juni«, von ihm selbst an jenem Theater inszeniert, an dem schon der legendäre »Faust« seines Vaters Adolf Dresen Ende der 60er für Furore sorgte.
ND: Andreas Dresen, warum gerade ein Stück über die »Bewegung 2. Juni«?
Ich versuche mir damit die West-Geschichte anzueignen, die ich auch als Teil meiner Geschichte ansehe. Ich will daraus Schlüsse ziehen, etwas haben für mich. Aber es ist ja kein klassisches Stück. Ich habe seit 1998 Material gesammelt, mich oft mit Inge Viett getroffen, viele Gespräche auch mit anderen von der »Bewegung 2. Juni« gehabt und immer mehr Material gehortet. Einige tausend Seiten inzwischen. Eigentlich für ein Filmprojekt. Mit dem Filmprojekt aber hab ich mich etwas verlaufen.

ND: Wieso?
Am Anfang war mir klar, dass ich etwas zur Peter-Lorenz-Entführung in den 70er Jahren machen wollte. Je mehr Material ich hatte, desto unklarer wurde mir, wie der Film aussehen sollte. Ich will nach wie vor einen Film machen, aber ich hab noch keinen Schlüssel gefunden.
Nun also Theater vor dem Film.
Vor etwa zwei Jahren kam DT-Intendant Bernd Wilms auf mich zu, ob ich nicht eine Bühnenfassung aus dem Material machen wolle. Zuerst erschien mir das abwegig, aber dann entdeckte ich den Reiz des Angebots. Weil das Theater eben Formen bereithält, die der Film nicht hat.

ND: Zum Beispiel?
Monologe! Ich sagte dann in einer leichtfertigen Stunde zu, wusste aber nicht, ob es überhaupt geht. Ich hab ja auch noch nie einen Theatertext geschrieben. Zuerst probierte ich die klassischen Stückformen aus. Szenen. Dialoge.

ND: Aber das funktionierte nicht?
Nein, nach wenigen Seiten wurde mir das schal beim Schreiben. Ich hatte das Gefühl, dass es unangemessen verkunstet wirkt.

ND: Was heißt das?
Dass es sich von der Qualität entfernt, die ich beim Dokumentarmaterial schon hatte.

ND: Dann haben Sie doch einen Schlüssel gefunden?
Ich entdeckte plötzlich, dass im Dokumentarmaterial selbst schon starke Geschichten offen liegen. Da bin dann auf die Monologe gekommen.

ND: Das Stück besteht aus sechs Monologen.
Ich wollte diese Zeit aus ganz verschiedenen Perspektiven erzählen. Opfer und Täter. Es lag nahe, einen Politiker wie Peter Lorenz auftreten zu lassen.

ND: Lorenz war ein Berliner CDU-Politiker, der von der »Bewegung 2. Juni« entführt wurde.
Ja, in diesem Monolog ist alles authentisch, nichts hinzuerfunden.

ND: Ein skurriler Monolog.
Diese Entführung hatte ja auch etwas Skurriles. Man muss sich die Absurdität der Situation vorstellen, wenn der da plötzlich im Keller zusammen mit seinen Entführern Ohnsorg-Theater guckt. Wir haben uns jetzt das Stück besorgt: »Der Weiberhof«.

ND: So lange das Opfer nicht zu schwerem Schaden kommt, kann man hinterher vielleicht auch darüber lachen. Aber wenn der Entführte tot ist, bekommt die ganze Komik doch etwas extrem Perverses.
Natürlich. Aber Lorenz verbrachte ja nachher noch viele Jahre als Politiker. Er hat sich später auch sehr zurückhaltend über seine Entführer geäußert und ist dafür von der bürgerlichen Presse angegriffen worden.

ND: Die Terroristen verstanden sich als Stadtguerilla.
Da gibt es in dem Stück eine Frau Busch. Auf deren Briefe bin ich gestoßen. Eine einfache Frau mit einem behinderten Kind, der es wirtschaftlich sehr schlecht ging. Sie war CDU-Mitglied und schrieb nun Briefe an ihren CDU-Kandidaten Lorenz. Der hatte bis zu seiner Entführung nicht geantwortet, aber drei dieser Briefe in seinem Aktenkoffer bei sich. Die Entführer nahmen 700 Mark aus Lorenz Portemonnaie und schickten sie mit einem Brief an die Frau, in dem sie sie auffordern, nicht zu verzagen und weiter für ihrer Rechte zu kämpfen.

ND: Rührend, aber auch ziemlich naiv.
Ja, das hat fast Robin-Hood-Charme.

ND: Aber es gab auch eine sehr blutige Seite?
Dafür steht Charlotte von Rodenberg, ein fiktiver Monolog, als Frau des von der »Bewegung 2. Juni« ermordeten Kammergerichtspräsidenten. Das zeigt, es war nicht nur skurril, auch brutal. Und dann gibt es noch den Fahrer von Peter Lorenz, ein schlichtes Gemüt mit eher rechten Ansichten. Aus diesen ganz unterschiedlichen Monolog-Facetten setzt sich das Stück zusammen.

ND: Was ist die Wahrheit über die »Bewegung 2. Juni«?
Darüber soll sich der Zuschauer am Ende selbst sein Bild machen. Es ist jedenfalls kein einfaches Bild. Zum Wesen der Tragödie gehört ja, dass alle auf ihre Weise Recht haben.

ND: Wie dokumentarisch darf die Kunstform Theater sein?
Das habe ich mich dabei ständig gefragt. Was ist das, wenn jemand auf dem Stuhl sitzt und dem Publikum was erzählt? Als ich Peter Zadeks Mörderprotokolle »Bash« gesehen habe, fand ich das durchaus Theater. Sogar sehr starkes Theater. Weil es immer interessant ist, Menschen zuzusehen. Dafür müssen sie nicht auf der Bühne Rad schlagen. Hier ist es natürlich anders als bei »Bash«, nicht eine psychologische, sondern eine politische Thematik, die aus verschiedenen Perspektiven gesehen wird.

ND: Also mit anderen Worten: Die Realität ist das beste Theater?
(lacht) Zugespitzt könnte man es so formulieren. Ich finde es entscheidend, dass sich das Theater mit der Wirklichkeit beschäftigt und nicht in ästhetische Welten flüchtet. Das findet viel zu oft statt.

ND: Statt dessen?
Ich hab Lust darauf, mich auch mit politischen Themen zu beschäftigen. Das kann ja auch tragisch, komisch oder unterhaltsam sein. Aber für mich ist nicht Ästhetik das erste, worüber ich nachdenke, wenn ich irgendwas anfange.

ND: Was hat Sie an den Terroristen so interessiert?
Zuerst, dass es Leute waren, die sich sehr kritisch mit dieser Gesellschaft auseinander gesetzt haben, in der wir jetzt leben. Warum sind sie nicht weitergekommen damit, wie ist die Gesellschaft damit umgegangen? Das, finde ich, sind interessante Fragen, weil wir ja in einer nicht sehr utopienreichen Welt leben. Deshalb finde ich es wichtig, darüber nachzudenken, was Leute schon mal probiert haben und es nicht einfach beiseite zu legen.

ND: Warum »Bewegung 2. Juni« und nicht RAF?
Es gab schon einen ziemlichen Unterschied zwischen dem, was die RAF und die »Bewegung 2. Juni« gemacht haben. Das waren ja unterschiedliche Konzepte. Die »Bewegung 2. Juni« war bei der RAF immer als populistisch verschrien.

ND: Die kamen ja auch eher aus einer proletarischen Ecke?
Sicherlich gab es auch Ideologie dort, aber auch etwas, was sonst kaum vorkommt: Humor und Selbstironie. Sie sprechen in einer ihrer Erklärungen selbst von der Sauertöpfigkeit, die sich in die Linke eingeschlichen habe. Da ist was dran. Wenn man die Welt verändern will, muss es auch Spaß machen.

ND: Bomben werfen, ist aber eine sehr extreme Form von Spaß haben!
Das mein ich nicht mit Spaß.

ND: Aber es ist doch die letzte Konsequenz aus den Robin-Hood-Spielen. Aus dem Spiel wird blutiger Ernst.
Darum hat es auch nicht funktioniert. Sie sind ja gescheitert. Die Frage ist aber immer: Wie geht man mit einem gescheiterten Konzept um? Wie geht unsere jetzige Gesellschaft mit dem Konzept DDR um? Kein Naturwissenschaftler leistet es sich, ein missglücktes Experiment nicht auszuwerten. Aber in der Gesellschaft scheint das kein Problem zu sein, etwas nicht auszuwerten, oder nicht hinreichend. Da wird die DDR dann auf ein simples Gut-Böse-Schema zurechtgestutzt, als hätte es nur die Bonzen und die Widerstandskämpfer gegeben - und bei den 68ern ist es genau dasselbe. Die Terroristen werden entweder verklärt zu linken Überhelden, Märtyrern oder zu verbrecherischen Monstern gemacht. Das verstellt den Blick darauf, was die eigentlich wollten. Dass es nicht bloß Kriminelle waren, sondern Leute, die mit der Welt, in der sie lebten, unzufrieden waren. Da haben sie etwas probiert. Sie haben sich geirrt. Aber, dass die etwas versucht haben, finde ich wesentlich, weil wir ja in einer Zeit leben, wo keiner mehr was versucht. Die Welt ist so wie sie ist, man kann nichts machen - das find ich ziemlich fatal. Da bewegt sich dann gar nichts mehr. So überlassen wir das Handeln am Schluss den Leuten, die es lieber nicht tun sollten.

ND: Wenn ich die Musik zum Stück von Rio Reisers »Ton-Steine-Scherben« höre, ist da zuerst ein anarchistischer Grundimpuls. Gab es überhaupt ein theoretisches Konzept in der »Bewegung 2. Juni« oder nur ein »Macht kaputt was euch kaputt macht«?
Sicher gab es so etwas, aber das waren eher naive, ideologiehafte Erklärungen. Allgemeine Floskeln. Am Anfang war da ein Gefühl empfundener Ungerechtigkeit, ein Aufbegehren und dann sind die Konsequenzen fürs politische Handeln im Endeffekt immer drastischer geworden. Bis sie am Schluss an einem Punkt waren, an dem sie nicht mehr zurück konnten. Und auch nicht wollten. In diesem Prozess haben sie sich immer mehr isoliert, über die Wirklichkeit erhoben. Haben gar nicht mehr gemerkt, dass sie immer einsamer geworden sind.

ND: Am Anfang stand am 2. Juni 1967 der tödliche Schuss von einem Polizisten auf Benno Ohnesorg. Der hat die Radikalität des Rahmens abgesteckt.
Deswegen haben sie sich ja »Bewegung 2. Juni« genannt. Da ist auf beiden Seiten, von Staat und radikalem Protest, sehr viel Porzellan zerschlagen worden. Und wenn man genau hinguckt, hat die Gesellschaft leider nicht sehr viel daraus gelernt. Vor allem, was das Nachdenken über sich selbst betrifft. Da wird dann oft über Toleranz geredet, die nur vorgespiegelt ist.

ND: Das heißt?
Man stößt auf interessante Details. Etwa, dass die RAF die großen Autos fuhr und die »Bewegung 2. Juni« die kleinen. Das sagt auch etwas. Was es für Hierarchien gab bei der RAF, wie hier Elitedenken den eigenen Anspruch wieder zerstörte. Den Anspruch zu kontern mit der blutigen Konsequenz, zu der er geführt hat, das fand ich auch wichtig. Beides im Blick zu haben. Da sind Inge Viett und ich uns auch nicht einig.

ND: Dass das blutige Ende auch im Anfang schon angelegt war?
Na ja, sie haben die Gewalt dann ja sehr bewusst gewählt, sahen sich in einem Kriegszustand. Ich vermute, sie hätten auch am Anfang schon die Gewalt in Kauf genommen. Da ist dann der Unterschied unserer Anschauungen. Für mich hat das nichts mit Krieg zu tun, das ist einfach Mord.

ND: Dieses Entweder-Oder des Klassenkampfes hat auch das stalinistische Wo-gehobelt-wird-fallen-Späne hervorgebracht, den Zynismus dem Leben des Einzelnen gegenüber. Jedes Mittel ist für ein großes Ziel recht. Aber damit sind dann die Ziele selbst diskreditiert.
Ja, wenn man keine Mehrheit in der Bevölkerung gewinnt, kann man nicht in ihrem Namen agieren. Das muss einem ganz klar sein.

ND: Sie haben 1996 mit Ihrem Film »Raus aus der Haut« schon einmal die Frage des Terrorismus gestellt. Aber in Bezug auf die DDR. Schüler entführen ihren borniert-ideologischen Direktor.
Das war eher eine märchenhafte Form, mit der wir DDR-Realität durchgespielt haben.
Die Frage aber habe ich als sehr ernsthaft an mich gestellt empfunden: Was hätte man in der DDR tun können gegen den Staat, welche Aktionen wären denkbar gewesen, welche Grenzüberschreitungen nötig gewesen. Da sind wir wieder bei RAF und »Bewegung 2. Juni«.
So was wäre in der DDR wohl kaum möglich gewesen, aber das mal durchzuspielen, hat mich gereizt. In »Zeugenstand« ist das ja nun viel direkter versucht.

ND: Und mit einer gewissen Anstrengung des Verstehens verbunden.
Man muss zuhören. Und natürlich ist es nicht der gesellschaftliche Konsens, worüber wir hier reden. Das finde ich aber nicht so schlimm, wenn Reibung entsteht. Auseinandersetzung über gesellschaftliches Selbstverständnis findet doch viel zu wenig statt. Wenn alle sich immer einig sind, worüber reden wir dann?

Gespräch: Gunnar Decker
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