Das Gute, das Wahre, das Schöne

Ein Marktplatz der Moral: Das war die Frankfurter Buchmesse 2010

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Frankfurter Buchmesse ist ein doppelter Marktplatz. Zum einen wird gefeilscht um Lizenzen, geschmeichelt um Kunden, geheischt um Aufmerksamkeit – ein Geschäftstermin der Literaturvermittler. Zum anderen fordert das spezifische Material des Produkts, um dessen Verkauf es geht, seinen Tribut: das geschriebene Wort. Weil Sprache das Instrument ist, mit dem Menschen sich über ihr Verhältnis zueinander und zu ihrer Umwelt verständigen, kommt eine Buchmesse nicht umhin, auch Marktplatz im Sinne der griechischen Agora zu sein: kultisches Zentrum, Podium der Zeit- und Welterklärer, Spiegel gesellschaftlicher Zustände.

Das unmittelbare Nebeneinander von schöngeistigen Romanen und politischen Streitschriften, von christlichen und islamischen Botschaften, linken und rechten Interessen, von Multimedia und Antiquariat, von seichter Unterhaltung und seriösem Diskurs ist in den Messehallen selbstverständlich – ein friedliches Nebeneinander.

Der Zweideutigkeit des deutschen Worts »handeln« – hier der Austausch von Waren, dort das Eingreifen in die Ordnung der Dinge – entspricht das Zwitterwesen der weltgrößten Buchmesse, die Herbst für Herbst in Goethes Geburtsstadt, der heutigen Finanzmetropole am Main, über die Bühne geht. Die Tradition, mit Büchern zu handeln und über sie, reicht in Frankfurt mehr als fünf Jahrhunderte zurück. Bedrucktes Papier prägt auch im digitalen Zeitalter das Bild dieser Messe. Zwischen dicht bestückten Bücherregalen aber verschafft sich Jahr für Jahr mehr Technik ihren Raum. Die allgegenwärtigen iPhones, Touchscreens, Tastaturen haben das Leseverhalten verändert und die Entstehung von Texten. Als Bedrohung empfindet sie niemand mehr.

Ein Schreckgespenst vergangener Jahre, das E-Book, ist nunmehr eingemeindet in den Literaturbetrieb; als Randerscheinung mit positiven Effekten. Die Wertschätzung des guten alten Buches indes ist ungebrochen. Alt-Verleger Klaus Wagenbach beschreibt den Wesensunterschied zwischen diesem und einem E-Reader in einem Zukunftsszenario: Man stelle sich vor, der Urenkel erkunde in einigen Jahrzehnten den Dachboden und finde dort ein zerlesenes Buch voller Gebrauchsspuren, Notizen, Eselsohren – daneben ein dann längst veraltetes Lesegerät mit erloschenem Bildschirm. Welches der beiden Dinge verheißt ihm die interessanteren Geschichten?

Eine geisterhafte Menge von Geschichten schlummerte zwischen den Deckeln abertausender ausgestellter Bücher. Sich in sie zu vertiefen, bedürfte es einer Ruhe und Konzentration, die nirgendwo rarer ist als auf solch einem Jahrmarkt. Das schönste Bild: Ungerührt von den Menschenmassen, die sich vor ihnen Tüten tragend durch die Gänge schoben, saßen Vater und Tochter an einem Messestand, sie auf seinem Schoß, in Vaters Händen ein aufgeschlagenes Buch. Er las ihr vor, und sie lauschte so gebannt, als befänden beide sich allein im Kinderzimmer.

Den Großrednern auf dem Marktplatz der Meinungen hätte diese Szene gefallen. »Familie« und »Bildung« waren zwei ihrer am häufigsten benutzten Wörter. Es waren diesmal nicht zuerst die Gaukler, um die sich die Menschentrauben auf der Agora scharten, es waren die Warner und Mahner. »So wie bisher geht es nicht weiter«, hieß ihr Credo. Das Publikum lauschte, gebannt und ernsthaft wie selten. Spürbar das Bedürfnis nach Orientierung, omnipräsent die Verunsicherung. Überlegungen zum richtigen Umgang mit den Folgen der großen ominösen Krise beherrschten die Auftritte der Politiker und Pädagogen, der Philosophen und Propheten, die die Messe als Bühne nutzten. Allgegenwärtig: das Ringen um zukunftsfähige Werte, und seien sie noch so alt.

In der Häufung der Buchtitel, die an eine Verhaltensumkehr appellieren, spiegelt sich die Verunsicherung der Leute. Der »Stunde der Heuchler« (Edzard Reuter), die sich gewissenlos auf einem »Markt ohne Moral« (Susanne Schmidt) bereichert haben, folgen Sinnfragen wie: »Wofür stehst du?« (Axel Hacke, Giovanni di Lorenzo) und »Wie viel Moral verträgt der Mensch?« (Frank M. Wuketis). »Die Kunst, kein Egoist zu sein« (Richard David Precht) wird gepriesen; »Der Sinn des Gebens« (Stefan Klein) behauptet; »Die zehn Gebote« werden als »Eine Ethik für heute« wiederentdeckt (Matthias Schreiber). All diese und viele weitere Bücher, so unterschiedlich ihre Inhalte und Intentionen sind, fordern die Neuorientierung des Einzelnen in einer Gemeinschaft, die zu zerfallen droht.

Thilo Sarrazins Bestseller »Deutschland schafft sich ab« ist Bodensatz und Spitze dieses Bergs der Mahn- und Wahnliteratur – nur eben ohne Moral. Von den meisten anderen Autoren, die sich mit den Themen Sozialstaat, Demografie, Integration auseinandersetzen, unterscheidet sich Sarrazin durch die offene Verachtung der Schwachen; dafür zollen ihm Gleichgesinnte Respekt. Mit dem Vorwurf der Taktlosigkeit konfrontiert, antwortete der pensionierte Ex-Politiker und -Bankvorstand: »Taktlos wäre es, den Einzelnen auf Mängel hinzuweisen, für die er nichts kann. Soziale Gruppen als Mängelware darf man kritisieren.«

Aus dem Rampenlicht der Parlamente zurückgetreten, scheint es viele Politiker zum Schreiben zu drängen. Roland Koch präsentierte sein druckfrisches Buch »Konservativ«, worin er in kürzester Zeit offenbar all das notierte, was er politisch nicht durchzusetzen vermochte. Peter Struck zeichnet in »So läuft das« ein unrühmliches Bild seiner Zunft. Schließlich der abgewählte Krisenfinanzminister Peer Steinbrück: Sein Buch »Unterm Strich« ist mehr als ein Resümee der unter seiner Federführung vorläufig bewältigten Bedrohungen eines kollabierenden Finanzmarkts. Der eloquente Experte listet einen Katalog von Maßnahmen auf, die den Sozialstaat retten, den gesellschaftlichen Zusammenhalt bewahren, geopolitischen Verschiebungen vernünftig begegnen sollen.

Zu intensiven inhaltlichen Auseinandersetzungen mit seinen Forderungen kam es während der Messe nicht. Dafür stellen die Journalisten auf den Bühnen von »Zeit«, »FAZ« und ARD dem Sozialdemokraten immer dieselbe Frage: ob sein Buch eine Bewerbungsschrift um die künftige Kanzlerschaft sei. Eine Mehrheit der Bevölkerung, so jüngste Umfragen, würde ihm ihre Stimme geben. Der Umworbene wehrte witzelnd ab: Welche Partei würde ihn denn aufstellen? Nun, jedenfalls nicht die ungegründete Rechte, der Koch und Sarrazin näher stünden. Steinbrück ist ein Mann der Mitte.

Ein Poet, freilich, ist der politische Prosaiker nicht. Überhaupt: »Ein Politiker, der ein Schriftsteller ist, so was haben wir in unserem Land überhaupt nicht.« Diesen Satz sprach Suhrkamp-Geschäftsführer Thomas Sparr nach der Nobelpreis-Bekanntgabe für den Peruaner Mario Vargas Llosa. Lateinamerika, ohnehin präsent durch Gastland Argentinien, bekam durch den Preis zusätzliches Gewicht. »Politik und Poesie zu verbinden«, meinte auf einem der vielen Podien der Chilene Antonio Skarmeta, »das ist nur dann möglich, wenn keine großen Widersprüche existieren zwischen Fühlen und Denken«. Die Politik, hoffentlich, ist hierzulande ein rationales Geschäft. Die Versöhnung von Gefühl und Gedanken gelingt, wenn überhaupt, in der Literatur.

Literatur saugt wirkliche Welt auf und speit erdachte Welt aus. Sie kann alles und muss nichts. Das große Ganze wird sie nie verändern, den einzelnen Leser aber immer aufs Neue. Der österreichische Verlag Jung und Jung, dessen Autorin Melinda Nadj Abonji mit dem Deutschen Buchpreis geehrt wurde, hat sich zu seinem zehnten Geburtstag (ein »Anlass zum kurzen Innehalten«) ein kleines Bändchen geschenkt, es heißt »Die einzige Rettung: Schönheit« und sammelt ästhetische Wortmeldungen der Hausautoren. Im Vorwort schreibt Verleger Jochen Jung: »Das Schöne ist jetzt oder es ist nicht; das Schöne duldet keinen Aufschub.«

Natürlich ist das Schöne nicht die polierte Oberfläche, aber der Kern kann es auch nicht sein, wenn die Sinne es wahrnehmen sollen.« Das ist die Gabe der Kunst: Sie kann ein Leben erfinden, hier und heute, das in der wirklichen Welt immer unerfüllt bleibt. »Übrigens«, schreibt der Verleger Jung: »Um das Wahre und das Gute kümmern wir uns natürlich auch, aber das tun ja Gott sei Dank viele; das Schöne hingegen ...«

Literatur als Halt auf dem glatten Parkett der Marktschreier und scheinbaren Wahrheitsbesitzer – sie zu ergründen, ist nun Zeit bis zur nächsten Messe.

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