nd-aktuell.de / 18.10.2010 / Kultur / Seite 15

Wo heute der Hammer hängt

Stephan Kimmig inszenierte am Deutschen Theater Berlin Maxim Gorkis »Kinder der Sonne«

Hans-Dieter Schütt

Viel geschieht nicht. Professor Protassow forscht. Gene. Gorki zur Gegenwart gemacht. Seine Frau Jelena wird vom Maler Wagin geliebt. Überhaupt wird von Liebe geredet, und immer liebt man den falschen Menschen. Auch Hausmeister Jegor liebt sein Frau – deshalb prügelt er sie, Besitz muss gehorchen.

Maxim Gorkis »Kinder der Sonne« am Deutschen Theater Berlin, Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß. Zwischen Metallgestänge ödes Bürgertum. Gesellschaftsmüde vor dem Kollaps ihrer Verhältnisse. Wir sind schnell inmitten großartigsten Schauspiels.

Die Jelena der Nina Hoss: ausgestattet mit einem geradezu laszivem Genervtsein, das sich für seine Eruptionen die Augenbrauen, die Mundwinkel, überhaupt winzigste Stellen im Ausdrucksvermögen sucht. Wie die Hoss sich irgendwo anlehnt, wie sie sich in jeder Szene aufreizend beiläufig anpirscht, wie sie die Arme verschränkt oder theatralisch nach vorn wirft, wie sie den Kopf wegdreht oder ihn dicht vor ihrem Mann verzweifelt beben lässt – das hat noch in der Gefasstheit eine große Vehemenz, und der Ausbruch scheint sich seiner Kraft fürs unmittelbare Gefühl mitunter zu schämen.

Die Hoss spielt großartig eine Frau, die vom eigenen Mann übersehen wird, für den Künstler Wagin zur unverbindlichen Projektionsfläche wurde; da möchte ein Produkt der Verhältnisse wieder lebendiger Rohstoff für Liebe werden – um dann wohl, das weiß diese Jelena, erneut eine Ausbildung im Leiden zu erfahren.

Ulrich Matthes, ihr Mann: Der geht durchs gewöhnliche Leben wie durch ein Museum der merkwürdigen Abstrusitäten. Was es doch alles für sonderbare Dinge gibt: Liebe, Sehnsucht, Überschwang, Verzweiflung, ja sogar Frauen kommen vor. Unterm Arm trägt er Papier, als eile er durchs Universum und hätte jene Erdkugel unterm Arm, auf der sie alle herumwuseln, die doch einzig nur auf rettende Resultate seiner genetischen Forschungen warten. Matthes spielt einen betriebsamen Kauz, der in menschheitsdienlicher Mission an sich selbst vorbeihastet und darüber noch staunend lächeln kann. Nur einmal, da er auf den Möchtegern-Nebenbuhler seiner Frau zuschreitet, gewinnt dieser Sinnenstrunk eine heraufdrängende Kraft, es entsteht Aura, es strömt plötzlich die Energie eines in Mitleidenschaft gezogenen Menschen; und dort, wo Protassow seiner Frau die Liebe ins Gesicht schreit (»ich habe nur leider keine Zeit«), da taucht Matthes das aufgelöst zitternde Flehen seiner Pergament-Figur sofort auch in deren größte Lächerlichkeit.

Überhaupt hat Kimmigs Regie ihre bezwingende Eigenheit in diesen Wechseln aus Kreatur und Kotzbrocken in einer Person, in Wechseln aus Nähe und Entfernung, aus einem ständigen Begegnungsfluss, in dem der Text betont kunstlos plätschert. Ab und zu gehen diese Diskurs-Automaten in die dunkle Tiefe der Bühne, stehen dort wie am Abgrund der Welt, als wären sie grübelnde Menschen, oder als schauten sie schon nach denen, die dereinst kommen und diese Gesellschaft ausmisten werden, und sie kehren nach Sekunden zurück in ihre alte Feigheit, keinen Absprung zu wagen. Sei es nun in einen wirklichen Sinn oder in den Tod. Nur Alexander Khuon als Tierarzt Tschepurnoj überstrahlt alle mit der eisig lächelnden Lakonik, eine »sinnlose Existenz« zu leben. Ein konsequent Aufschauender – dorthin, wo man einen haltbaren Strick befestigen kann …

Katrin Wichmann ist dessen Schwester – rührend pubertäre Verdruckstheit, die einem schluchzenden Kitsch der Offenbarungseide weicht. Denn sie ist wahnwitzig verliebt in Protassow, der das »überflüssig« findet. Überflüssig wie die Anbeterei, die Wagin gegenüber seiner Frau betreibt. Den gibt Sven Lehmann als gedrungenen Kraftburschen, der arg ins Bemühte rutscht, wenn er feinfühlig sein will – die betörend komische Studie eines Menschen zwischen dem Behaupten einer gestalterischen Gegenwelt und realer Ankunft im Zynismus. Katharina Schüttler, Schwester des Genforschers, ist in diesem klebrig-blubbernden Räsonier-Vakuum aus lauter A-Sozialen die letzte Weidwunde: ein kleines schreiendes, umherirrendes störendes Kassandrinchen, das nur immer schwarz sieht, also klar ...

Theater darf, wenn es uns mit Wahrhaftigkeit aufspielt, eine freudvolle, weil nur simulierte, Vorhölle genannt werden: Albträume sind im Theater für ein paar Stunden zum Fest erhoben, und wir haben uns fürs Fest zurechtgemacht, weil es etwas Besonderes ist, für diese paar Stunden mitzuspielen, also in Geist und Gemüt so zu tun, wir könnten – das Nichtige sehend und aus dem Bösen lernend – bessere Menschen sein, uns angestoßen fühlen fürs Schöne und Gute. Bis der Vorhang wieder fällt, zwiefach: auf der Bühne und in uns. Wir bleiben die Alten. Aber seltsam: Obwohl die Wirkungslosigkeit der Kunst absolut nichts Neues ist, stieß sie, so mein Eindruck, in dieser Premiere besonders aufdringlich zu. Weil besonders auffiel, was ein Symptom derzeitigen Theaters ist: Etwas kann auf der Bühne noch so spiegelbildlich hart, abstoßend, erbärmlich, hilflos, erschütternd gezeigt werden – kaum endet eine Aufführung, so zerjuchzt und zerquickt ein claqeurhaft anmutender Jubelchor jedes mögliche Sekündchen Besinnung. Als sei die Hingabe an den ernsten Moment, an wahre Aneignung tabu geworden. Das Können, das sich sehen lässt, stimuliert die Eitelkeit des Publikums, kreischend von sich hören zu lassen. An diesem Abend schien's mir so blöd wie selten.

Ein wenig liegt's an der Inszenierung selbst. Ihre Mitleidlosigkeit ist nicht nur traurig, sondern wird von spöttischer Art überlagert; ihr Text ist nicht nur Seele oder Seelenhülle, sondern sehr unverhüllt Pointe; ihr Wesen besteht nicht bloß im Leiden, sondern ebenso in der Ausstellung von Leiden.

Am Schluss stürzt der schiefschultrige Hausmeister herein, Markus Graf gibt ihn wie einen schmutzigen Feldstein, der sich selber durch eine Parkettlandschaft kollert; mit einem Hammer hatte er vorhin schon gegen die Eisengestänge geschlagen, als sei er die Kraft, die an den Schlaf der Welt rührt – das Proletariat als wahres Schreckgespenst aus Grobheit und Brutalität. Jetzt wird sich ausgerechnet Matthes' Professor in blinder Aggressivität gegen ihn werfen, ihn bespucken – so begegnen einander Oben und Unten; Bespeien und Bespucktwerden als Gesprächsweise zwischen Elite und sozial Eliminierten.

Einst waren Gorki-Stücke auch Hort sozialer Aufbruchsstimmung. Die Kraft des Plebejischen – geradezu auftrumpfend in so manchen Stück-Schluss eingeschrieben, jener weltsprengende Gedanke, dieser »Wundbrand der Wachheit« (Peter Weiss), der kühne drohende Tanz der Utopie ...

Zerstoben. Jetzt nur noch der stumpfe trunkene Hausmeister, der uns zeigt, wo der Hammer heute hängt, und dann noch dieser stiere Blick von Markus Graf ins Publikum. Rohe, tobende Kraft, nichts Denkendes, nichts Rettendes, nichts Befreiendes. Mittelschicht klingt blass, aber Unterschicht klingt wie Fusel und Dreck und dreinschlagende Unkultur. Führende Klasse, ja, aber nur, wenn's um den weiteren Niedergang geht. Das ist die bittere Wahrheit, über die an diesem Theaterabend erschreckend viel gelacht wird. Abstoßend viel. Diese Wahrheit ist fast noch bitterer.

Der Menschen Auftrag, Kinder der Sonne zu sein: eine Hoffnung. Ulrich Matthes' Arm fliegt steil nach oben, wie eine Flugbahn, wenn er dieses Bild hinausruft. Am Ende steht fest: Nur jene Hoffnung zählt, von der man sich nicht täuschen lässt.

Nächste Vorstellung: 19.10.