Merkel greift bunte Republik an

  • Jürgen Reents
  • Lesedauer: 3 Min.
Die multikulturelle Gesellschaft ist zu einem zentralen Feindbild der Konservativen geworden. Auf dem Deutschlandtag der Jungen Union am Wochenende in Potsdam ritten sowohl Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel als auch CSU-Chef Horst Seehofer scharfe Attacken gegen »integrationsunwillige« Einwanderer. »Multikulti« sei »absolut gescheitert«, sagte Merkel. Die Bundeskanzlerin versteht darunter die Haltung »Jetzt leben wir so nebeneinander her und freuen uns übereinander«.
Ihre Geburtsurkunde trägt einen jugoslawischen, polnischen, brasilianischen oder ghanaischen Stempel. Ihre Familienwurzeln sind tunesisch, türkisch, nigerianisch, kosovo-albanisch, kamerunisch-französisch, spanisch oder US-amerikanisch. Sie haben bis heute 193 Fußball-Tore für Deutschland geschossen. Fotos: dpa (19), imago (2)
Ihre Geburtsurkunde trägt einen jugoslawischen, polnischen, brasilianischen oder ghanaischen Stempel. Ihre Familienwurzeln sind tunesisch, türkisch, nigerianisch, kosovo-albanisch, kamerunisch-französisch, spanisch oder US-amerikanisch. Sie haben bis heute 193 Fußball-Tore für Deutschland geschossen. Fotos: dpa (19), imago (2)

CSU-Chef Horst Seehofer rief dem jubelnden konservativen Parteinachwuchs zu: »Wir als Union treten für die deutsche Leitkultur und gegen Multikulti ein. Multikulti ist tot.« Es gelte, christliche Werte zu achten. Deutschland dürfe »nicht zum Sozialamt für die ganze Welt werden«, sagte der bayerische Ministerpräsident. In einem Sieben-Punkte-Plan, den das rechtsdrallige Nachrichtenmagazin »Focus« präsentierte, beharrt Seehofer darauf, dass »Deutschland kein Zuwandererland« sei. Zu seinen Forderungen gehört u. a., das Nachzugsalter für Kinder von 16 auf 12 Jahre herabzusetzen.

Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer, kritisierte die Erklärungen Seehofers scharf. »Das ist nicht nur schäbig, sondern geradezu verantwortungslos«, sagte er der Sonntagausgabe der »Rheinpfalz«. Auch Politiker der SPD, der LINKEN und der Grünen empörten sich. Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir sprach von einem »Schmierenstück«. Er wies darauf hin, dass der Forderung der Unionspolitiker, das Erlernen der deutschen Sprache sei eine Bedingung für die Integration ausländischer Zuwanderer, eine »traurige Politikbilanz« gegenüberstehe. Die Bundesregierung sei nicht in der Lage, die Nachfrage nach Sprachkursen zu bedienen, 20 000 interessierte Migranten würden keinen Platz erhalten.

Petra Pau, Vorstandsmitglied der Linksfraktion und Vizepräsidentin des Bundestags wertete die Reden Seehofers und Merkels als Versuch, »die Lufthoheit über den Stammtischen für die Union zurückzugewinnen«. Solche Reden bergen »die Gefahr nationalistischer Überheblichkeit und gesellschaftlicher Spaltung«, sagte Pau.

Nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa hat das Bundesinnenministerium bei den Bundesländern eine Umfrage gestartet, um verschärfte Sanktionen gegen Migranten vorzubereiten, die Integrationskurse »schwänzen« würden. Auch bereite die Koalition eine Verschärfung des Aufenthaltsrechts vor. Wer an Integrationskursen nicht teilnehme, müsse mit einer Kürzung von Sozialleistungen rechnen. In gravierenden Fällen könne das Aufenthaltsrecht beendet werden.

Tatsächlich hat sich die Schlagzahl, mit der Konservative ihr verstaubtes und elitäres Deutschlandbild im Land verbreiten, in den letzten Wochen beträchtlich erhöht. Nach Thilo Sarrazins Provokation insbesondere gegen in Deutschland lebende Muslime hatten Seehofer und die CDU-Familienministerin Kristina Schröder mit ihren Stichworten zu angeblicher »Deutschenfeindlichkeit« hier lebender Migranten und gegen eine »Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen« weiteres Öl ins Feuer gegossen. Die Bundeskanzlerin hat sich diesem Tenor nun mit unheimlicher Offenheit angeschlossen. Daran ändern auch relativierende Nebenbemerkungen nichts, mit denen die Kanzlerin dennoch der Äußerung von Bundespräsident Christian Wulff beipflichtete, auch der Islam gehöre zu Deutschland. Merkel wie all die anderen Unionspolitiker wissen – müssten jedenfalls wissen –, dass ihre Kampfansage an »Multikulti« ein Lockruf für chauvinistische Ressentiments in der Gesellschaft ist. Dass sie sich dabei vermutlich von kurzfristigen parteitaktischen Erwägungen leiten lassen, um die Union aus einem Umfragetief herauszuholen, mildert die Sache nicht. Die Union ist weniger Getriebener als Antreiber von fremdenfeindlichen Stimmungen in Teilen der Bevölkerung.

Diese Stimmungen werden durch eine irrationale Gegenüberstellung von Multikulti und Integration – vor allem sogenannter »Leistungsträger« – brandgefährlich bedient. Zu spüren bekommen wird dies der in Deutschland eingebürgerte oder hier in einer Migrantenfamilie geborene Fußballspieler ebenso wie Millionen Menschen inmitten unserer Gesellschaft. Die Attacken gegen »Multikulti« beheben keine Schwachstellen mangelnder Integration – genauer: mangelhafter Integrationspolitik – sie locken die Kanaille im Volk. Und sie sind ein Affront gegen all jene, die sich nachbarschaftlich um tatsächliche Hilfe bei der Integration in unsere Gesellschaft bemühen: in eine friedliche, tolerante und kulturvolle Gesellschaft, in der jegliches rassistische Gift, das gerade von Deutschland aus so viel Leid und Unheil angerichtet hat, nachhaltig entsorgt sein könnte. Und in ein Land, so bunt wie seine Fußballer.

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