Der Ausbruch

I Am Love - Film von Luca Guadagnino

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 3 Min.

Menschen investieren viel Energie in Kommunikation, in der Illusion, dass wahre Kommunikation miteinander möglich wäre. Seit sechzig Jahren kreist das Kino um diese Vorstellung. Ich als Cineastin bin überzeugt, dass das Kino etwas anderes viel besser kann, nämlich die Dinge im Stillen zu halten.
Tilda Swinton

Die Recchis gehören zur High Society von Mailand. Sie haben Geld, Einfluss und den zugehörigen Dreck am Stecken. Emma (Tilda Swinton) wurde in den Clan zwar nicht hineingeboren. Aber seit ihrer Heirat mit Tancredi (Pippo Delbono), dem Firmenerben, hat auch sie sich die Ideale, die Umgangsformen und Sprachfloskeln der Recchi zu eigen gemacht. Als Tancredi sie einst als Vorzeigegattin von einer Konferenz mitbrachte, war sie zunächst von der Fülle des Warenangebots im Westen überwältigt, wird Emma später erzählen. Denn Emma war Russin, bevor sie eine Recchi wurde, und den Borschtsch, den ihre Mutter kochte, hat sie nie ganz vergessen. Er wird eine wesentliche Rolle spielen bei ihrem Ausbruch aus den Ritualen der Vermögenden, dessen Chronik der Film ist.

»I Am Love« ist ein Film von großer Schönheit und beinahe noch größerer Kälte. Eine Gesellschaftsstudie aus dem Leben und Treiben der oberen Zehntausend, ach was, der oberen paar Dutzend. Und damit von eher beschränktem Interesse, könnte man meinen. Regisseur Luca Guadagnino aber und seine diversen Drehbuch-Koautoren betrachten die dünne Luft in diesen milliardenschweren Gipfelsphären der lombardischen Oberschicht mit dem Interesse eines Anthropologen oder Ethnologen, wie eine fremde Spezies, wie einen Urwaldstamm mit seinen von der übrigen Welt völlig abgeschiedenen, noch immer ganz besonderen Ritualen.

Eine mikroskopisch kleine, aber höchst rigide durchritualisierte Welt, in die sich Emma, der Neuzugang, mit kühler Schönheit perfekt eingepasst hat, voll eingegliedert und in den zwanghaft guten Manieren und diziplinierten Freuden des Recchi-Clans untergegangen, wie ihre Schwiegermutter Rori (Marisa Berenson) vor ihr, wie ihre Schwiegertochter Eva (Diane Fleri) nach ihr. Bis die sinnliche Erfahrung der Küche von Antonio (Edoardo Gabriellini), dem Freund und Schutzbefohlenen ihres Sohnes Eduardo (Flavio Parenti), die feinpolierte Porzellanschicht zum Brechen bringt und der fühlende, atmende, schon halb erstickte Mensch unter so viel Perfektion hervorbricht. Ganz sachte und erschrocken erst, wie der Schmetterling aus seiner Puppe. Und mit Vehemenz und ohne Rücksicht auf Verluste später, als der Sohn schon verloren und ohnehin alles längst viel zu spät ist für den geordneten Rückzug in den Kokon von manierlicher Wohlanständigkeit und fabelhaftem Reichtum.

Koch Antonio ist der Gegenentwurf zu Emmas Mann Tancredi, diesem quadratschädeligen Patriarchen alter Schule, der weder seiner Frau noch auch nur seinem Sohn und Erben irgendwelche Freiheiten einzuräumen bereit ist. Mit seiner Kochkunst eröffnet Antonio Emma – die nicht nur keine gebürtige Recchi ist, sondern eigentlich noch nicht mal Emma heißt – neue Welten. Und der Film verwandelt sich mit, wechselt von den starren Gruppenporträts der Recchi-Reichen, vom Schnee im Hof der nicht zufällig aus faschistischen Zeiten stammenden Recchi-Villa in den sommerlichen Kräutergarten auf dem Land, in dem Emma und Antonio sich im Gras wälzen, bis ihre Körper in Detailaufnahmen ineinander verschwimmen.

Mit Emmas Ausbruch aus ihrem weniger güldenen als marmorfarbenen Gefängnis schließen sich die verbliebenen Reihen der Recchis hinter ihr. Ob ihre lesbische, in London lebende Künstler-Tochter Betta (Alba Rohrwacher, ebenso rotblond und ätherisch kantig wie Swinton) ihr eines Tages die Tür wieder öffnen wird, scheint möglich – aber selbst das bleibt fraglich. Dem Zuschauer bleiben kalte Symmetrien und warme Sinnesfreuden in Erinnerung, und über allem die Musik des amerikanischen Komponisten John Adams, dessen (vorbestehende) Musikstücke und Opernpassagen die kostbare Textur der Räume, Möbel und Personen grandios in neue Beziehungsgefüge betten.

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