Gefährliche Literatur

Dieter Wellershoff: Dem Kölner Schriftsteller, Medienautor und Essayisten zum 85.

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 6 Min.
Literatur ist für Dieter Wellershoff Simulationsraum, »Probebühne«, auf der lebensnotwendige Probleme verhandelt werden.
Literatur ist für Dieter Wellershoff Simulationsraum, »Probebühne«, auf der lebensnotwendige Probleme verhandelt werden.

Literatur ist entweder gefährlich oder trivial. Man könnte auch sagen, dass sie nur als gefährliche existiert. Im anderen Falle bleibt sie bloße Konfektionsware, die sich zwar gut verkaufen und konsumieren lässt, aber restlos dann auch verschwindet – im besten Fall im und als Altpapier. »Literatur, die etwas taugt, ist gefährlich», schreibt Dieter Wellershoff an einer Stelle seines Buches »Der verstörte Eros. Zur Literatur des Begehrens« (2002), »denn sie rührt an die Sprengsätze der menschlichen Existenz. Sie kann gefährlich sein für den Leser, weil sie ihn mit Erfahrungen konfrontiert, die er in den Routinen und Begrenzungen seines alltäglichen Lebens gewöhnlich zu vermeiden versucht. Und sie ist vor allem gefährlich für den Autor, der sich (...) in ihrem Dienst auf eine Höllenfahrt begibt, dabei allerdings in ihr einen mächtigen Schutz genießt. Denn in ihr verwandelt er auch die Irrtümer, Niederlagen und Verletzungen seines Lebens in eine Erfahrung der Kompetenz.«

Literatur ist für alle, die sie betrifft, gefährlich – wenn auch auf unterschiedliche Weise, wenn auch in verschiedenen Intensitäten. Es geht schließlich um die Existenz. Der Autor schreibt um sein Leben, und dem Leser geht dabei möglicherweise ein Licht auf: Ach, so ist das – so könnte man die Dinge auch betrachten. Literatur, darauf hat Dieter Wellershoff schon früh Mitte der 60er Jahre in poetologischen Reflexionen hingewiesen und mit Nachdruck insistiert, stellt so etwas wie einen »Simulationsraum« oder eine »Probebühne« dar, auf der lebenswichtige, noch radikaler: überlebensnotwendige Probleme und Konstellationen verhandelt werden. Literatur ist nicht das Leben, sondern – um eine Formulierung Georg Simmels hier zu verwenden – immer »Mehr-Leben« und »Mehr-als-Leben«. Denn in ihr wird das Leben verschärft, werden krisenhafte Momente und Situationen aufgezeigt, werden Fallgeschichten und Geschichtsfälle demonstriert. In anderen Worten und recht verstanden: Literatur im Sinne Dieter Wellershoffs vermittelt Aufklärung über das Leben, Aufhellungen über jenes »Dunkel des gelebten Augenblicks«, wie sich Ernst Bloch, auf dessen Formulierung Wellershoff häufiger zurückgreift, ausgedrückt hat.

Der Erzähler, Medienautor und Essayist Dieter Wellershoff nimmt sich, so könnte man den Grundimpuls für sein Schreiben bezeichnen, des Lebens gerade dort an, wo es penetrant aufdringlich, nämlich zu nahe ist, wo die Gegenwart zum schädlichen Raum (Georg Lukács) wird und Alltäglichkeit zur Last fällt. In der Sprache der Medizin: Wellershoffs Texte – und man könnte die frühen Hörspiele aus den 50er und 60er Jahren daraufhin ebenso durchmustern wie die späteren Fernsehspiele, die Erzählungen und Novellen, schließlich alle Romane, nicht zuletzt das sog. »Spätwerk« – diagnostizieren Lebenskrisen; die Protagonisten haben massive Probleme: mit sich selbst und/oder ihren Partnern, mit der Umwelt oder der ganzen Gesellschaft. Daher täte man gut daran, sich einer traditionellen ästhetischen Kategorie wiederzubesinnen: nämlich der des Typus, womit bekanntlich keine Typen oder Stereotypen gemeint sind, sondern vielmehr jene Art von Helden, deren besondere Probleme zugleich etwas über den Stand und Zustand gesellschaftlicher Befindlichkeiten auszusagen in der Lage sind.

Man braucht nur an Wellershoffs Romane seit den sechziger Jahren zu denken, um die Idee bzw. Kategorie des Typus mit dem Fleisch gesellschaftsgesättigter Erfahrung zu füllen: Es beginnt mit »Ein schöner Tag« (1966) und der minutiösen Beschreibung einer Dreierkonstellation, einer Rumpffamilie, in der sich Vater, Sohn und Tochter unter Vorspiegelung falscher Tatsachen und konventioneller Höflichkeiten tatsächlich bis zur völligen Entfremdung auseinandergelebt haben; der Protagonist aus der »Schattengrenze« (1969) hat sich in dunkle Machenschaften und Geschäfte verstricken lassen und bewegt sich jetzt wirklich wie – einer beginnenden Schizophrenie zufolge – auch im Imaginären in einem Grenzbereich.

Kommissar Bernhard in »Einladung an alle« (1972), in seiner Lebensmitte angekommen, beruflich zwar erfolgreich und familiär gesichert, spürt doch dunkel, dass er auf der Stelle tritt, dass sein geplantes Buch nicht vorankommen will und dass einzig noch in der Jagd auf den Kleinkriminellen Findeisen die Chancen für sein weiteres Voranleben liegen; Klaus Jung dagegen in »Die Schönheit des Schimpansen« (1977) leidet an einer tiefen Kränkung und Schmach, die – weil nicht verarbeitet – eruptiv aufbricht und ihn zum Mörder einer Unbekannten und schließlich zum Selbstmörder werden läßt; Ulrich Vogtmann aus »Der Sieger nimmt alles« (1983) wiederum sieht jahrzehntelang wie der ewig strahlende Siegertyp aus, der sich alles nimmt und dabei noch vergoldet, bis ihn windige Partner und riskante Geschäfte um alles bringen, um sein Firmenimperium, die Familie und das eigene Leben.

Das Quartett aus »Der Liebeswunsch« (2000), diese beiden so ungleichen Paare, können tun und lassen, was sie wollen, sie stecken doch in den falschen Beziehungen, wobei es müßig ist, darüber zu sinnieren, ob und wie es für sie anders, besser oder richtig gelaufen wäre. Es ist, wie es ist, wie das Leben halt so spielt und einem mitspielt.

Dieter Wellershoff spitzt die Dinge zu, verschärft die Konflikte zu Existenzkrisen, in denen plötzlich etwas aufscheinen kann: eine intuitive Erkenntnis, die Einsicht, dass da etwas völlig verfahren ist, dass ein Lebensentwurf sich als Illusion herausstellt, dass die romantische Liebesvorstellung (Du oder keine) eine schmerzliche Täuschung und die auf Prosperität abzweckende Biografieplanung vielmehr ein einziges grandioses Desaster gewesen ist. Für die Helden kommt diese Einsicht als Erfahrung jedoch meist zu spät. Nur wir – Autor wie Leser – haben das Glück, diese (oder noch andere) Erfahrungen zu machen und dann bereichert wieder aus dem Text ins wirkliche Leben zurückzukehren.

Keine letzten Worte, wohl aber möglicherweise eine prägnante Verdichtung für seine Ansichten über die Literatur und das Leben, die Welt und den einzelnen in ihr hat Dieter Wellershoff an einer Stelle seiner Böll-Preisrede aus dem Jahre 1988 geliefert. Da heißt es: »Ich stelle mir manchmal die Aufgabe, in einer vom Zufall durchmischten Welt zu leben, im Bild eines Kartenspiels vor. Man zieht gute und schlechte Karten, Vor- und Nachteile, Glücks- und Unglücksfälle, Gaben und Handikaps in einer zufälligen Mischung und Reihenfolge und muß nun versuchen, damit sein Spiel zu machen. Allmählich kann man vielleicht Ordnung in das Chaos bringen und seinem Spiel eine Richtung, eine eigene Logik geben. Doch das entstandene Muster kann stets durch neue Herausforderungen durchkreuzt werden, die die Zukunft offen halten als ein Feld unterschiedlicher Möglichkeiten.«

Der Autor dieses Artikels hat eine Festschrift zu Dieter Wellershoffs 85. Geburtstag herausgegeben, in der sich neben Essays und Aufsätzen zum Werk eine Bibliographie, ein Gespräch mit Wellershoff sowie einige Briefe Wellershoffs befinden: »Literatur ist gefährlich« (Aisthesis Verlag, 2010)

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