Nur ein »Grenzzwischenfall«?

Drei DDR-Grenzer stehen wegen Schüssen auf einen 14-jährigen Flüchtling vor Gericht

  • Claus Dümde
  • Lesedauer: 8 Min.
Mitten in Berlin fielen am Nachmittag des 23. Mai 1962 Dutzende Schüsse. DDR-Grenzer wollten am Spandauer Schifffahrtskanal verhindern, dass ein Flüchtling das westliche Ufer erreicht. Westberliner Polizisten nahmen sie unter Feuer. Der Gefreite Peter Göring wurde tödlich getroffen, ein weiterer Grenzer verwundet. Der flüchtende Wilfried Tews wurde durch sieben Geschosse lebensgefährlich verletzt. Drei ehemalige Grenzer stehen deshalb nun in Berlin vor Gericht, mehr als 40 Jahre später.
Die Staatsanwaltschaft wirft Werner G. und Arno E., beide inzwischen Rentner, sowie dem heute 59-jährigen Günter H., Betonbauer von Beruf, aber arbeitslos, vor, »versucht zu haben, einen Menschen zu töten, ohne Mörder zu sein«. Doch wenn Peter Marhofer, der Vorsitzende Richter der 39. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin, geladene Zeugen vor ihren Aussagen belehrt, verwendet er nicht den juristischen Terminus »versuchter Totschlag«, sondern spricht von einem »Grenzzwischenfall«, einer »Flucht von Ost nach West«. Das ist angemessen, aus mehreren Gründen: Es geht tatsächlich um eine Flucht - und den Versuch, sie auch durch Schusswaffeneinsatz zu verhindern. Der damals erst 14-jährige Schüler Wilfried Tews ist geflohen, weil er Abitur machen wollte, was ihm in Erfurt verwehrt wurde. Obwohl er »gern zur Schule gegangen« ist, wie er vor Gericht sagte, und wohl auch gute Leistungen hatte. Doch er »war nicht angepasst«, betonte er. Um den ersten im Dienst erschossenen DDR-Grenzer, den posthum zum Unteroffizier beförderten Peter Göring, der bei diesem »Grenzzwischenfall« sein Leben verlor, geht es hingegen im Saal 700 des Kriminalgerichts Berlin-Moabit nicht, jedenfalls juristisch, obgleich er, zwangsläufig, an jedem der bisher drei Verhandlungstage zur Sprache kam. Doch die Ermittlungen gegen Westberliner Polizisten, die - wie Zeugen auch in diesem Prozess bestätigten - gezielt auf DDR-Grenzer geschossen haben, wurden schon vor über zehn Jahren eingestellt. Weil sie »in Nothilfe« gehandelt hätten - für Tews, auf den vom Osten aus geschossen wurde, als er den Kanal durchschwamm und offenbar auch noch, als er sich, schwer verletzt, auf einen Bootsanleger an der westlichen Kanalmauer gewälzt hatte. »Blutige Provokation an Staatsgrenze« lautete am nächsten Tag im »Neuen Deutschland« die Überschrift einer dürren, wenig aufschlussreichen Pressemitteilung des DDR-Innenministeriums. Dass es sich um Schüsse von beiden Seiten der Grenze, nicht um einen »Feuerüberfall auf DDR-Grenzposten« handelte, wie da zu lesen war, wurde zunächst ebenso verschwiegen wie die Tatsache, dass die Schüsse im Zusammenhang mit einem Fluchtversuch abgegeben wurden. Tags darauf, am 25. Mai 1962, ließ sich beides auch in den DDR-Medien nicht mehr vertuschen. Das SED-Zentralorgan widmete dem blutigen Vorfall an der Grenze sogar komplett seine Titelseite, auf der ein riesiges Foto auch den toten Grenzer zeigt, offenbar am Tatort. Begriffe wie »Grenzverletzung« und die Floskel vom »bestellten Provokateur«, der angeblich »wie verabredet die Grenze verletzte«, ließen keinen Zweifel daran, dass es sich dabei auch um einen Fluchtversuch handelte. Doch dass ihn ein erst 14-jähriger Schüler aus Erfurt gewagt hatte, dass er dabei minutenlang von Ostberliner Seite aus beschossen und lebensgefährlich verletzt wurde, konnten die DDR-Bürger nur aus dem westlichen Rundfunk und Fernsehen erfahren. Die DDR blieb bei der am Abend des Vorfalls von zentraler Stelle vorgegebenen einseitigen Wertung, wie die ND-Schlagzeile »Mordüberfall der Frontstadt-OAS« vom 25. Mai 1962 (siehe Faksimile) zeigt. Im fett gedruckten Vorspann war von einem »ungeheuerlichen Verbrechen« die Rede: »Westberliner Bürgerkriegstruppen führten mit amerikanischen Waffen einen Feuerüberfall gegen Grenzsicherungskräfte der Deutschen Volkspolizei. Sie benutzten eine vorbereitete Grenzverletzung, um, nachdem sie eine Stunde zuvor Stellung bezogen hatten, in das Territorium der DDR einzudringen. Durch gezielte Schüsse der Banditen wurden der Unteroffizier Peter Göring getötet und der Unteroffizier Karl Laumer schwer verletzt.« Das wirkt einerseits wie grobschlächtige Agitation jener Art, die auf dem Höhepunkt des kalten Krieges nicht nur in der DDR praktiziert wurde. Andererseits passen die verschachtelten Sätze mit Einschüben - »nachdem sie eine Stunde zuvor Stellung bezogen hatten« - nicht recht dazu. Und was ist an der damals im ND gedruckten Behauptung, die Westberliner Polizisten seien »mit sechs Einsatzwagen... eine Stunde vor der "X-Zeit" vom ehemaligen Reichstagsgebäude her angerückt und in Stellung gegangen«? Stimmt das? Und falls ja, was ist der Grund dafür? Um zweifelsfreie Antworten auf diese Fragen hat sich auf westlicher Seite nie jemand bemüht. Auch deshalb konnte Peter Göring in der DDR zum Helden gemacht werden, obwohl allen Aussagen und Indizien zufolge vor allem er damals auf Wilfried Tews geschossen hat. Auch Aussagen, die der heute 54-jährige schwer behinderte Heilpraktiker, der im Norden Schleswig-Holsteins lebt, und andere Zeugen jetzt im Prozess, vor 40 Jahren in der DDR oder in den 90er Jahren bei der (West-)Berliner Polizei gemacht haben, sowie die Erinnerungen der Angeklagten passen nicht zusammen. Ist es denkbar, dass auch in diesem Fall Verschiedenes parallel gelaufen ist, eine »vorbereitete Grenzverletzung« und der spontane Entschluss von Wilfried Tews, am Invalidenfriedhof die Flucht zu wagen? Wie er sie vor Gericht schilderte, kann er nicht der »bestellte Provokateur« gewesen sein, von dem im ND die Rede war. Andererseits kann er danach aber auch nicht jener junge Mann sein, den der Angeklagte Günter H. und sein 1992 verstorbener Postenführer Karl-Heinz T. am Nachmittag jenes 23. Mai 1962 auf dem Invalidenfriedhof gesehen und zum Stehenbleiben aufgefordert hatten. Denn der hat, so erinnert sich H. genau, den Maschendrahtzaun vor der stacheldrahtbewehrten Friedhofsmauer nicht überklettert, wie das Tews schilderte, sondern ist durch ein in den Zaun geschnittenes Loch gekrochen. Die Drahtschere wurde gefunden. Außerdem sei der junge Mann zusammen mit einem viel Älteren auf den Friedhof gekommen. Auf Nachfragen von H.s Anwalt Klaus Bartl bestätigte Tews seine Schilderung, sagte ausdrücklich, dass er keine Drahtschere bei sich hatte und allein auf dem Friedhof war. Warum sollte Tews lügen? Warum aber sollte sich H. etwas ausdenken, was er nicht beweisen kann? Protokolle über Aussagen bereits verstorbener DDR-Grenzer von 1962, die verlesen wurden, brachten auch wenig Erhellung. Offenkundig wurden sie vor allem von zweierlei geprägt: dem Wunsch der Vernehmer, Beweise für die These zu erhalten, Göring sei Opfer eines »Mordüberfalls« geworden, und dem Bemühen der Grenzer, keine Anhaltspunkte dafür zu geben, dass sie in jenen Minuten womöglich nicht immer entsprechend den Dienstvorschriften gehandelt haben. So wie H. und T., die Tews gesehen hat, wie sie abseits ihres Beobachtungspostens herumstanden und rauchten... Merkwürdig auch, was der Zeuge Heinz K. aussagte, der den Akten zufolge damals als Leutnant der Ostberliner Kripo an der Untersuchung des Tatorts beteiligt war und zahlreiche Vernehmungen durchführte: Der Tatort sei bereits »völlig verändert« gewesen, er habe weder den Toten noch einen Verletzten gesehen. Und er habe »keinerlei Befragungen vorgenommen«. Als ihm der Vorsitzende Richter die Protokolle mit seiner Unterschrift zeigte und darauf verwies, dass im Tatortbericht die Lage der Leiche detailliert beschrieben und er als anwesend aufgeführt ist, sagte K. lapidar, dann werde es wohl so gewesen sein, auch wenn er sich nicht mehr erinnert. Hm. Der Mann ist zwar 76, doch redete munter, machte auch viele Angaben zu Details. Ist es da denkbar, dass er sich an die Hauptsache nicht mehr erinnert, den ersten erschossenen DDR-Grenzer gesehen und dessen Kameraden vernommen zu haben, die damals auch in jenem Grenzabschnitt Dienst taten? Oder haben vielleicht MfS-Leute sowohl den Tatort untersucht als auch die Grenzer befragt, aber in den Protokollen neben dem Militärstaatsanwalt zwei Kripo-Offiziere und eine Justizangestellte angeführt, womöglich im Blick auf einen etwaigen Auslieferungsantrag an die Westberliner Justiz? Weitere Indizien dafür gibt es. So betonte Leutnant K., dass damals in allen Polizeiakten der jeweilige Dienstgrad immer mit dem Zusatz »der K« (für Kripo) angegeben wurde. Im »Fall Göring« steht aber in »seinen« Protokollen stets »Leutnant der VP«. K. sagte ferner aus, dass Befragungen damals nur mit Schreibmaschine protokolliert wurden, meistens vom Vernehmer selbst, weil die Kripo nicht nur keine Tonbandgeräte, sondern auch kaum Schreibkräfte hatte. Der Angeklagte H. aber erinnert sich genau, dass damals seine Aussage sowohl von einer Protokollantin als auch auf Tonband aufgezeichnet wurde. Ob der Vernehmer K. hieß, weiß er nicht, denn der habe sich nicht vorgestellt. Beim MfS war das auch nicht üblich... All diese Umstände lassen Aussagen von 1962 fragwürdig erscheinen. Rechtsanwältin Suzanne Kossack ist sicher, dass sich das Gericht darauf nicht stützen wird. Bleiben die Angaben der Zeugen im Prozess. Bisher hat keiner einen der drei Grenzer belastet. Im Gegenteil. Sogar Tews erzählte, dass ihm damals ein Westberliner Polizist berichtet habe, von der Sandkrugbrücke - dort stand Arno E. - hätten Grenzer »Fische erschossen«, »das Wasser gemäht«. Werner G., der mit Peter Göring Dienst auf einem kleinen hölzernen Wachturm tat, betonte, dass er beim Auftauchen des Flüchtlings nur eine Salve von acht Schuss als Warnung schräg in die Luft abgab. Von seiner Position aus habe er auch gar nicht gezielt schießen können, weshalb ja Göring den Turm verließ. Auch Günter H. konnte hinter den beiden Mauern zwischen Friedhof und Kanal nicht mal das Wasser sehen, was Tews bestätigte. Wie hätte er da auf den Schwimmenden schießen können... Versuchter Totschlag? Vielleicht spricht Richter Marhofer ja deswegen nur von einem »Grenzzwischenfall«, weil die 39. Strafkammer selbst zunächst in einem umfangreichen Aktenvermerk festhielt, dass gegen die drei Angeklagten kein hinreichender Tatverdacht besteht und deshalb der Staatsanwaltschaft empfahl, die Anklageschrift zurückzunehmen. Die tat das nicht, sondern regte nur an, vier weitere Zeugen zu ermitteln und gegebenenfalls zu vernehmen. Laut Anwältin Kossack war das irrelevant. Sie rechnet deshalb mit Freispruch, nicht nur für ihren Mandanten. Zumutbar sei der Prozess dennoch auch nach 40 Jahren, befand das Gericht in einem Beschluss, mit dem es einen Antrag aller drei Angeklagten ablehnte, das Verfahren einzustellen, weil solch eine lange Dauer gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt.
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