nd-aktuell.de / 13.11.2010 / Kommentare / Seite 19

Gesetze gegen Menschen ohne Papiere

Im US-Bundesstaat Arizona kämpfen kleine Initiativen gegen die Kriminalisierung von Migranten

Gabriel Kuhn
Luis Fernandez ist Gründungsmitglied der Repeal Coalition, einer Gruppe von migrantischen Arbeitern und Akademikern, die sich für offene Grenzen und die Rechte von Migranten in den USA einsetzt.
Luis Fernandez ist Gründungsmitglied der Repeal Coalition, einer Gruppe von migrantischen Arbeitern und Akademikern, die sich für offene Grenzen und die Rechte von Migranten in den USA einsetzt.

Luis Fernandez war zehn Jahre alt, als er mit seiner Familie aus Nicaragua in die USA kam. Er sprach kein Wort Englisch. Heute ist der mittlerweile 41-Jährige Assistenzprofessor für Kriminologie an der Northern Arizona University in Flagstaff. Das Hauptaugenmerk seiner politischen Tätigkeit richtet sich seit vielen Jahren gegen Gesetzesentwürfe, die im Bundesstaat Arizona die Verfolgung »illegaler Einwanderer« erleichtern sollen. Arizona teilt eine knapp 500 Kilometer lange Grenze mit Mexiko. Der Bevölkerungsanteil von Latinos liegt bei etwa dreißig Prozent.

Ein im April 2010 von der Gouverneurin Jan Brewer unterzeichneter Gesetzesentwurf, die Senate Bill (SB) 1070, erregte besonderes Aufsehen und stürmische Proteste, weit über die Grenzen Arizonas hinaus. Zum Kern der SB 1070 zählt die Verpflichtung der Exekutivkräfte, Ausweiskontrollen von Menschen durchzuführen, die »mit gutem Grund« verdächtig werden können, sich illegal in den USA aufzuhalten – in einem Polizei-Trainingsvideo werden unter anderem »charakteristische Kleidung, Erscheinungsbilder und Verhaltensweisen« genannt. Zudem verpflichtet das Gesetz alle BürgerInnen Arizonas, inklusive Schul- und Krankenhauspersonal, MigrantInnen ohne Papiere anzuzeigen. Wer dies unterlässt, macht sich des Menschenhandels und aktiver Schutzhilfe verdächtig. Das bedeutet in der Praxis, dass Freundschaften und Beziehungen mit MigrantInnen, die keine offizielle Aufenthaltsgenehmigung besitzen, potenziell strafbar sind.

Die Gesetze hätten schon am 29. Juli in Kraft treten sollen. Eine Intervention der US-Regierung, die in der SB 1070 einen Eingriff in die ihr obliegende Regelung der Einwanderungsgesetze des Landes sieht, verhinderte dies vorerst. Die Regierung Arizonas hat dagegen Berufung eingelegt. Wenn die Streitparteien hart bleiben, wird der Fall bis zum Obersten Gerichtshof gehen.

Für Fernandez ist die vorläufige Verhinderung der Gesetze ein Teilerfolg, doch ein Ende der Auseinandersetzung sieht er nicht. Er verweist darauf, dass das Thema Migration die Politik in Arizona seit Jahren bestimmt und zahlreiche Gesetzesänderungen bereits durchgesetzt wurden. »Reaktionäre Kräfte« hätten schrittweise auf das hingearbeitet, was nun mit der SB 1070 einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Ungeachtet des endgültigen Rechtspruchs in diesem Falle werden die Verantwortlichen nicht aufgeben: »Es geht ihnen um die Verteidigung der USA als ›weißes‹ Land. Sie behaupten unentwegt, es gehe nicht um Race, aber das ist Quatsch.«

Zwei weitere Gesetzesentwürfe mit schwerwiegenden Implikationen sind bereits ausformuliert und warten auf das Absegnen durch die Regierung des Bundesstaates: Einer sieht vor, allen Kindern ohne offizielle Aufenthaltsgenehmigung den Schulzugang zu verweigern; der zweite will das 14. Amendment der US-Verfassung außer Kraft setzen, wonach alle in den USA geborenen Menschen das Recht auf Staatsbürgerschaft besitzen – ein Recht, das 1868 in Zusammenhang mit dem Ende der Sklaverei verbürgt wurde.

»Muss ich Gäste nach ihren Papieren fragen?«

Für Fernandez betreffen diese Entwicklungen nicht nur MigrantInnen ohne Papiere. Bei jeder Razzia werden Dutzende von nicht-weißen US-StaatsbürgerInnen mitgenommen. »Eine der ersten Fragen ist immer: ›Wo bist du geboren?‹ Sobald ich ›Nicaragua‹ sage, bin ich verdächtig.« Es sei unmöglich, sich von diesen Realitäten nicht beeinflussen zu lassen, selbst als privilegierter Universitätsangestellter. Deshalb meidet Fernandez bestimmte Gegenden und Situationen. Am schlimmsten, erzählt er, seien die Auswirkungen auf alltägliche soziale Beziehungen. »Muss ich in Zukunft alle Nicaraguaner, die ich nach Hause einladen will, nach ihren Papieren fragen?«

Zu den BefürworterInnen der Gesetzesverschärfungen gehören auch Gruppen wie die Minutemen, deren Milizen auf eigene Faust an der mexikanischen Grenze patrouillieren; außerdem selbsterklärte Sympathisanten des National Socialist Movement wie der Ex-Marine Jason Ready sowie Joe Arpaio, der berüchtigte Sheriff von Phoenix und des umliegenden Maricopa County, dem mittlerweile sogar das FBI Bürgerrechtsverletzungen vorwirft.

Die Auseinandersetzungen um die SB 1070 brachten während des Sommers Menschen aus den gesamten USA nach Arizona, die sich an verschiedenen Protestaktionen beteiligten. Während sich einerseits lokale Aktivisten wie Fernandez über das Engagement im Allgemeinen freuten, machte es andererseits Probleme deutlich, die man auch von Gipfelprotesten und anderen Veranstaltungen in Europa kennt: »Zahlreiche dieser Leute hatten schlicht keinen Bezug zu der betroffenen Bevölkerung. Sie kamen hierher, machten ihr Ding und nach dem 29. Juli waren sie wieder weg. Wir jedoch bleiben hier.«

Fernandez ist Teil der im Sommer 2007 gegründeten Repeal Coalition, die AktivistInnen aus dem akademischen Milieu und migrantische ArbeiterInnen vereint und vor allem in Flagstaff und Phoenix aktiv ist. Die Koordinationsarbeit wird von etwa vierzig Personen betrieben, dazu kommen Hunderte, die lokal tätig sind. Im juristischen Sinne bedeutet »repeal« soviel wie »Außerkraftsetzung«. Die Gruppe setzt sich für die Abschaffung aller Gesetze ein, die das Recht von Menschen auf uneingeschränkte Bewegungsfreiheit verletzen. Sie sieht sich als Grassroots-Initiative, die dem Beispiel von Bürgerrechtskämpfern wie César Chávez folgt, dem Gründer der US-amerikanischen Landarbeitergewerkschaft. Ihre Arbeit konzentriert sich auf die Wohnviertel der am stärksten betroffenen Menschen, wo Mitglieder von Haus zu Haus gehen und Nachbarschaftstreffen vereinbaren, um Erfahrungen auszutauschen und Widerstandsstrategien zu entwickeln. In der Existenz dieser kollektiven Räume sieht Fernandez die Stärke der Repeal Coalition und den Grund für die positive Resonanz.

Kampagnen für die Rechte der Migranten

Die meisten Treffen finden in Trailer Parks statt, den Wohnwagensiedlungen für Arme. Die Diskussionen drehen sich oft um ganz konkrete Fragen, mit denen sich alle kriminalisierten Gemeinschaften auseinanderzusetzen haben: Wer kümmert sich um meine Kinder, wenn ich verhaftet werde? Wie kann Geld für Prozesse aufgetrieben werden? Wer hat Kontakte zu AnwältInnen?

Gleichzeitig geht es auch um politische Strategien. Momentan wird eine »Verweigerungskampagne« vorbereitet. Sollten die auf der SB 1070 beruhenden Gesetze letztendlich doch in Kraft treten, beabsichtigen Tausende von Menschen Schilder an ihren Häusern anzubringen, die ausdrücklich jede Zusammenarbeit mit den Behörden verweigern. Dies käme einer Selbstkriminalisierung ganzer Stadtviertel gleich. Diese Kampagne habe, so Fernandez, das Potenzial, den gesamten Gesetzesapparat lahm zu legen, vor allem wenn US-StaatsbürgerInnen beginnen würden, sich gegenseitig für die Nichteinhaltung der Gesetze anzuzeigen.

Ähnliche Pläne hat die Gruppe Tierra y Libertad in Tucson, der größten Stadt im Süden des Bundesstaates, nur hundert Kilometer von der mexikanischen Grenze entfernt. Tierra y Libertad engagiert sich seit Langem für die Rechte der örtlichen Latino-Community. Die Gruppe hat ein ausgedehntes Kommunikationssystem mit aufgebaut, das rasche Warnung vor Polizeirazzien ermöglicht und Menschen über ihre Rechte im Umgang mit den Sicherheitsbehörden aufklärt. Gemeinsam mit der Repeal Coalition und anderen Projekten organisiert sie auch medienwirksame Proteste, etwa gegen die Arizona Diamondbacks, das Baseball-Team des Staates, dessen Eigentümer den für die SB 1070 verantwortlichen PolitikerInnen nahe steht. Bei Spielen der Diamondbacks tauchen im ganzen Land DemonstrantInnen vor den Stadien auf oder stürmen mit mexikanischen Fahnen auf das Spielfeld.

Wie von Fernandez befürchtet, führte die Parlamentswahl in Arizona Anfang November zu einem weiteren Rechtsrutsch. Aber die bisherige Widerstandsarbeit und das entstandene Gemeinschaftsgefühl lassen ihn hoffen. Viele MigrantInnen ohne Papiere waren gewohnt, zurückgezogen zu leben und möglichst wenig aufzufallen. Doch sei dies unter den neuen Gesetzen schlicht nicht mehr möglich. Die Gesetzesverschärfungen zielen darauf, schlussfolgert Fernandez, die Lebensbedingungen dieser Menschen so weit zu kriminalisieren, dass sie entweder zwangsläufig gefasst werden oder freiwillig verschwinden. Tausende haben Letzteres bereits getan. Doch es gibt ebenso Tausende, die in Arizona verbleiben und nunmehr entschlossen und lautstark ihre Rechte einfordern. Fernandez wagt es nicht, Prognosen abzugeben: »Wo das hinführen wird, kann ich nicht sagen. Aber das, was ich in den letzten Monaten an Politisierung, Zusammenhalt und Solidarität erlebt habe, stimmt mich zuversichtlich.«