nd-aktuell.de / 13.11.2010 / Kultur / Seite 25

Fülle und Leere des Bewusstseins

Die geistvollen »Notizhefte« von Henning Ritter

Hans-Dieter Schütt

Henning Ritter, 1943 geboren, war von 1985 an dreizehn Jahre Leiter des Ressorts Geisteswissenschaften der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Entlang seiner Existenz als Redakteur schrieb er seit den Siebzigern »Einfälle« in Notizhefte, er selbst spricht von einem »halben Hundert« solcher Blätter-Bände. Nun ist eine Auswahl der zwischen 1990 bis 2009 entstandenen Reflexionen erschienen.

Ein packend geistvolles Buch – die Bemerkungen Ritters kreisen nicht um äußere Abläufe, es liegt hier also kein Tagebuch im landläufigen Sinne vor, sondern gleichsam die Biografie eines Denkens, dessen Intelligenz souverän auf Grundthemen einer fragenden ethischen und ästhetischen Existenz zielt. Und das in betörend stilsicherer Sprache, die beispielgebend für das heranzitiert werden darf, was journalistisches Dasein auch vollbringen kann. Wenn es denn jenes obligate Leid (an der Hatz beim flüchtigen Interpretieren von irgendwelcher Realität) zu verwandeln weiß ins Gegenprogramm eines schöpferischen Bedenkens von Welt und dem alles umfassenden Warum und Wozu.

Einfälle. Dem Begriff ist genauer nachzuschmecken. Denn nicht um den plötzlichen gedanklichen Purzelbaum geht es hier, nicht um das spontan herbeiplatzende Bonmot, sondern um das tief forstende Philosophieren rund um lebensprägende »Motive und Impulse«, es geht um die Freiheit der Selbststeigerung auf »immer neuen Ausflügen zu Lieblingsautoren und in Lieblingsepochen«.

Einfälle ja, aber eher das, was mit dem Wort Lichteinfall treffender gefasst sein könnte: Einem erhellenden Schein, der auf seinen Durchbruch wartet, wird per Notiz Ausdruck gegeben. Eingebung. So, wie sich eine Wolke öffnet, und dann ist allem darunter Liegenden ein Licht gegeben. Erleuchtung. Ritter selbst spricht von zwei parallelen Vorgängen: Was ihn bewegt und worüber er vornehmlich sinnt, es erschließe ihm »Leerräume des Bewusstseins«, es fülle diese; andererseits räume jede maßgebliche geistige Erfahrung »im überfüllten Bewusstsein auf« – diese Erfahrung drängt Unwesentliches weg, sie stärkt so das Zentrum des geistigen Selbstverständnisses.

Dieses Buch vermittelt die Ahnung, kein Eintrag sei in schlaflosen Nächten oder Zuständen der Gereiztheit entstanden. Es strahlt ein tiefer innerer Ernst, wie ihn die Aufzeichnungen etwa von Botho Strauß oder das »Tagebuch eines Melancholikers« von Hartmut Lange haben. Dieser tiefe innere Ernst aber ist kein Verscheucher der Neugier oder der tastenden Lust, mit der man im Buch blättern kann. Begeisterung ist so möglich wie Irritation. Langeweile jedoch kaum. Es ist die Chronik einer in einem einzelnen Menschen zeitlos wirkenden großen Kultur. Es ist das Protokoll seiner unablässigen Reise ins Beseelende literarischer Erlebnisse.

Ritter schreibt über Nietzsche und Montesquieu, über Cioran und Malraux, Gide und Thomas Mann; er zitiert Carl Schmitt und Sigmund Freud; er lebt gleichsam in den Schriften der großen Franzosen, Pascal oder Montaigne. »Das achtzehnte Jahrhundert überragt die anderen Jahrhunderte, weil es am meisten enthält von dem, was ihm vorausging, wie von dem, was ihm folgt.«

Ritter schaut auf die großen Werke auch des 19. Jahrhunderts, die Romane der Russen, Balzacs, Zolas oder Dickens': »ergreifende Schilderungen der Armut«. Heutiger Literatur bescheinigt er, sie habe »sich vom Mitleid emanzipiert, deswegen kennt sie die Gegenstände nicht mehr, die sich nur durchs Mitleid erkennen lassen. Die Literatur, die wirken will, will nicht mehr den Umweg über das Mitleid gehen, sie will nicht rühren, sondern Taten sehen. Dadurch macht sie sich zum Instrument der Täter«. Der wahre Feind der modernen Gesellschaft? »Der selbstbewusste Arme, der für jede Hilfe und Zuwendung unzugänglich ist … nichts wäre mehr zu fürchten als der Aufstand derer, die nichts brauchen.« Wert der Ration? »Vom Sieg der Vernunft über den Schmerz zu sprechen, hat etwas Verkehrtes. Dies ist auch nicht gemeint, wenn man vom Märtyrer sagt, er habe den Schmerz überwunden. Die Vernunft will nicht, dass es weh tut.« China? »Wenn man heute sagt, China gehöre die Zukunft, so wird das erstaunlicherweise ohne Nebentöne von Neid gesagt – als wäre man erleichtert, dass das Land gefunden ist, das sich der Zukunft annehmen will.«

Kritische Einreden eines Bürgers, der auch das Geschäft der Politik wuchernd übergrast sieht von der Politik des Geschäfts. Was einzig not tut? »Dazu beitragen, dass die Menschheit als ganzes ernährt werden kann, ist unanfechtbarer Lebenssinn. Alles, was hierzu nicht beiträgt, ist rechtfertigungsbedürftig«. Aufklärung heute? »Die Reichen erklären den Armen, warum sie arm sind.« Deutsche Einheit? Der Störfall für den westdeutschen Linken: Die schier »unüberwindliche Spaltung« kam diesem »deutschen Intellektuellentypus« sehr entgegen – »mit seinem Hang zum folgenlosen Engagement und seinem Idealismus der unendlichen Aufgabe«.

Der Herausriss kristalliner Sätze ist irreführend, weil dies den Zusammenhang ausblendet, in dem der Autor denkt. Alles hat mit allem zu tun und bezieht sich aufeinander, trotz jener Beiläufigkeit, die alle Notiz im Wesen mit sich trägt. Jede Notiz scheint Beginn eines weit greifenden Essays zu sein. Bezwingend das kompromisslose Streben Ritters nach dem wahrhaften, von jedweder rhetorischen Suada freien Gedanken, seine stolze Abneigung gegen Vereinfachungen, die ansteckende Faszination für einsame und gegen sich selbst strenge Geister (»man soll sich in der Öffentlichkeit so äußern, dass keinesfalls eine Debatte entsteht«).

Ein tollkluges Buch ist zu preisen, das in langer Reihe deutscher Reflextionsliteratur Bestand haben wird. Der Dünndruck auf weißen Papier macht es schmaler, als es ist. Aber es wiegt, in mehrfachem Sinne. Edel in Leinen, und es hat sogar zwei Lesebändchen – Andeutung wohl, dass es für die besonderen Merkstellen so sehr viel mehr Bändchen sein müssten.

Für mich einer der schönsten Sätze ist jener Satz über das Höchste, was Geschichtsschreibung erreichen kann: »Dass der Leser im ungewissen ist über den Ausgang der Dinge, mit dem er sich bisher vertraut glaubte.« Kein Schelm, wer dabei auch an die eigene politische Welt bis 1989/90 denkt.