Der gelbe Schmetterling

»Still Walking« von Hirokazu Kore-eda

  • Marion Pietrzok
  • Lesedauer: 5 Min.

Auf den ersten Blick scheint in diesem Film schlichtweg gar nichts zu passieren. Nichts, was uns interessieren könnte. Kein herausgehobenes Ereignis wird gespiegelt, nichts Nervenzerrendes spielt sich hier ab, nichts Historisches, kein Panorama schwelgerischer Landschaft. Statt dessen: Von Anfang an schaut man nur, hört zu, wartet ab und gibt sich dem ruhigen Rhythmus des Filmes hin ...

Wir sind in Japan. Ein Familientreffen findet statt. 24 Stunden – Alltäglichkeit. Ein älterer Herr geht spazieren, leicht auf den Stock gestützt. Er verschafft sich ein bisschen Bewegung an frischer Luft, da er daheim nicht mehr das Zepter in der Hand hat, und nimmt von seinem Haus aus in der städtischen Siedlung, die am Berghang liegt, die Treppe hinunter zur Küste. Ein Jogger flitzt an ihm vorbei. Unten trennt das Band einer Schnellstraße die Stadt vom offenen Meer. Moderne Hast. Aber die Siedlung gewährt ihr keinen Zugang. Es ist ein friedliches, sonniges Sommerwochenende, still die Natur, und die Musik – Gontinis meisterhaft gezupfte Gitarrenklänge – gibt sich durchgängig heiter.

Im Haus mit zum Garten hin offenem Wohnzimmer und geräumiger Küche wieselt schon die Familie der Tochter umher, die als Erste angekommen ist. Die Mutter bereitet das Essen für die vielen Münder, schält Rettich, schüttelt geschnippelte grüne Bohnen, Brei wird gestampft, Fladen brutzeln im Fett. Zutat um Zutat, die geschickten Hände, Töpfe, Pfannen und Schüsseln – alles ist von der Kamera in nahesten Großaufnahmen erfasst, minutenlang. Weht nicht eben gar der Duft des Essens in die Zuschauerreihen? Man kommt auf den Geschmack – mit diesem Film. Die Tochter, die der Mutter nicht von der Seite weicht, ist eher keine Hilfe am Herd, mehr eine Plaudertasche, und sie sondiert, da sie mit Mann und den beiden Kindern ins Haus der Eltern einziehen will, das Terrain.

Das da und dort schon reparaturbedürftige Haus hatte einst der älteste Sohn für die Eltern gebaut, hier praktizierte der inzwischen pensionierte Vater als Arzt. Das Klinikschild – Relikt einstigen Ansehens – steht noch vor der Eingangstür. Das ehemalige Ordinationszimmer ist im Laufe der nächsten Stunden Rückzugsort für den ruhebedürftigen Mann, ein Ort ungestörten Verweilens in Erinnerung und Trauer. Denn der Sohn, der auch die Praxis des Vaters hätte übernehmen sollen, ist seit fünfzehn Jahren tot. Verunglückt, als er einen Jungen vor dem Ertrinken im Meer rettete. Ihm zu Ehren also das alljährliche Familienbeisammensein. Auch die Begegnung mit dem damals Geretteten, der jedes Jahr eingeladen wird, zum peinlichen Rapport darüber, was er mit seinem Lebensgeschenk angefangen hat, gehört zum Ritual. Ein bisschen beiläufig schon die gemeinsame Andacht vorm Hausaltar, man blättert in alten Fotoalben, und irgendwann an diesem Tage wird der Friedhof mit dem Grab besucht. Und die Mutter glaubt im flatternden gelben Schmetterling, der sie von Zuhause dorthin geführt hatte, die Seele des Sohnes fliegen zu sehen.

Dem jüngeren Sohn, der die Eltern mehr liebt, als sie ahnen oder sich eingestehen können, verübelt der Vater bis heute, einen eigenen Weg eingeschlagen zu haben. Der Sohn hat immer schon im Schatten seines Bruders gestanden. Trotzdem versucht er stets aufs Neue, zaghaft, wenigstens Verständnis vom Vater zu erlangen. Statt Menschen heile er Bilder, erklärt der Sohn, doch verschweigt er, dass er als Restaurator zurzeit arbeitslos ist. Obendrein hat er – ganz entschiedener Ärger des Vaters – ein Tabu berührt: Er hat eine Witwe (mit Kind aus erster Ehe) geheiratet. Zum ersten Mal hat er sie mitgebracht. Der bescheidenen, freundlichen Frau fällt es zu, in manch scharfem Wortwechsel zu vermitteln, der unter der gespannten Decke der Höflichkeit der Familienmitglieder gegeneinander mancherlei Konflikte, Missverständnisse, Entfremdung gar erahnen lässt.

Wie nebenbei wird immerfort scheinbar Belangloses betrachtet. Aber diese raschen Unauffälligkeiten, die Momente des Unausgesprochenen gewähren Blicke in die Seelenleben. Auch werden kleine Geheimnisse aufgedeckt. Offenbar wird beispielsweise, was die Mutter vorm Vater verbirgt, nämlich ihre Spielleidenschaft, und das große schmerzliche Geheimnis mit langer Geschichte: dass der Vater eine Geliebte hatte und die Mutter ihr Wissen darum bis zu diesem Tag verborgen hat. Ihr vorgebliches Lieblingslied, »Still Walking«, verrät es ihm. In einem Epilog erfährt man vom Tod der Eltern, der Sohn berichtet es aus dem Off. Und in beherrschtem Ton des Bedauerns: was er unterlassen hat, zu sagen und zu tun auf deren letztem Weg, als man glaubte, noch lange Gelegenheit dazu zu haben.

Wunderbar das Spiel aller Darsteller, voller Poesie die Bilder der Kamera. Vor allem aber Kore-edas feinfühlige Genauigkeit der Beobachtungen, wie sie vielleicht immer nur im Rückblick, im zeitlichen Abstand nach dem Tod der Eltern, möglich ist, wirkt – in doppeltem Wortsinne – ergreifend. Von den sinnlich erfahrbaren Details in der Küche über die Gespräche der Enkelkinder miteinander bis zu den psychologischen Zusammenhängen, die ganz filigran nur über Blicke, Gesten und schlichte Dialoge vermittelt werden. Nähe zu dieser Familie stellt sich so ganz schnell und unbemerkt ein. Nicht Figuren als Botschaftsträger werden gezeichnet, sondern Menschen porträtiert und aus liebend-respektvoller Distanz ihre Beziehungen untereinander. Weder wird Handlung ausgeklügelt, noch demonstrative Dramatik erzeugt. Leiser Humor schwingt in manchen Episoden mit, und vor allem die Wehmut, die die Erinnerung an gelebtes Familienleben mit all ihren Höhen und Tiefen grundiert. Es ist die Natürlichkeit, die warme Wahrhaftigkeit der Erzählung, die tief berührt. Still und in einer Vertrautheit, als sei das Geschehen Teil des eigenen Lebens, geht der Zuschauer mit, er ist still walking und für 114 Minuten im Kino Mitglied dieser Familie.

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