Fast wie zu Hause

»Der frühe Vermeer« in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden

  • Marion Pietrzok
  • Lesedauer: 4 Min.
»Im Prisma des Vermeer« – Experimentierfläche zur Ausstellung in der Hochschule für Bildende Künste
»Im Prisma des Vermeer« – Experimentierfläche zur Ausstellung in der Hochschule für Bildende Künste

Die Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister gibt sich dezidiert didaktisch. Das ist schön, muss auch einmal sein, da Bildungswissen hierzulande nicht mehr so hoch im Kurs zu stehen scheint. Sie hat sich nicht etwa alle Vermeers ins Haus geholt und protzt mit einer Jahrhundertretrospektive, wie es die großen Museen in ihrem Kampf gegen die immer wieder aufflammende Frage nach ihrer Daseinsberechtigung gern tun. Nein, sie verfuhr nach dem Motto »Weniger ist mehr« und vertraute auf die Anziehungskraft von sage und schreibe nur drei, beziehungsweise vier Gemälden aus der Hand des großen Delfter Meisters Johannes Vermeer (1632-1675).

Es handelt sich natürlich erst einmal um das berühmte Dresdner Bild »Bei der Kupplerin« (1656), ein Fest von Kanariengelb, Feuerrot und schwarz-weißer Pracht – in Vermeers Oeuvre ein singuläres Werk. Mit seinen wenigen Figuren kommt es heutigen Museumsbesuchern, denen das eine Ausstellung abarbeitende Vorbeieilen an den Bildern die durch die schnellen Medien anerzogene Sehgewohnheit ist, sehr entgegen und erzeugt viel eher Lust an der Frage: Wie hat er das gemacht, warum so und worin anders als die anderen? Die zwei der »Kupplerin« beigesellten, die frühesten erhaltenen Vermeer-Gemälde, »Diana und ihre beiden Gefährtinnen« (um 1653-54) und »Christus bei Maria und Martha« (um 1654-55), kommen aus Den Haag (Mauritshuis) und Edinburgh (National Gallery of Scotland) und sind zum ersten Mal nach ihrer Restaurierung zu sehen. Nicht nur der Augenschmaus ist enorm, sondern auch, wie sie uns nahekommen, ganz vertraute Situationen spiegeln, nicht wie sonst die jahrhundertealten Historienbilder. Soweit das Entree. Das »Brieflesende Mädchen am offenen Fester« (um 1657-59) aber, ja, wo ist es? Eins der Dresdner Aushängeschilder, es fehlte als Reproduktion in kaum einem Wohnzimmer ostdeutscher Provenienz. Nun, es ist als kunstpädagogisches Sahnehäubchen zubereitet.

Das eher handliche Format hängt weit weg vom weitsichtigen Betrachterblick an einer angedeuteten Zimmerwand hinter einem Podest in einem besonderen Raum. Einer edlen Rumpelkammer mit ausgesuchten Möbeln, Tellern, Gläsern, Krügen, als sei man in einem Museum für Kunsthandwerk. Gegenstände, wie sie Vermeer, der in eine reiche Familie geheiratet hatte, seinerzeit umgeben haben mögen und auf seinen berühmten, stillen Interieurs eine Rolle spielen. Den gelehrigen Ausstellungsbesucher erfreut die Inszenierung, zumal das »Brieflesende Mädchen« zum ersten Mal seit 250 Jahren in einen schlichten, typischen holländischen Schmuckrahmen gefasst zu sehen ist. Man fühlt sich fast wie zu Hause. Doch so richtig beleuchtet – im doppelten Sinne – wird das ins Brieflesen versunkene Fräulein hinterm grünen Vorhang in einem Extrakabinett, das das Bild exakt dreidimensional nachbildet und als lebensgroßes Modell begehbar ist. Kunst zum Anfassen. So taucht man zwar nicht in gemalte Poesie ein, sondern in modernste Technik, per Vorträge und Lehrfilm um ein Weiteres erhellt, aber pars pro toto und in Ermangelung vieler Kunstunterrichtsstunden in der Schule sei's bedankt.

Die Rekonstruktion war aufwendig, Wissenschaftler und Künstler der Hochschule für Bildende Künste, der Technischen Universität und der Volkshochschule Dresden in großer Zahl waren beteiligt und hauseigene konservatorische Forschungsergebnisse konnten zu Hilfe genommen werden. Das Ganze lüftet so manches Geheimnis, sodass nicht nur die Arbeitsweise des frühen Meisters lebendig, der Entstehungsprozess des Gemäldes anschaulich werden – der war spannend, übrigens, wie ein Krimi –, sondern nach Kenntnisnahme dessen auch Gedanken angeregt werden, die uns Heutige, uns E-Mail-Leser und Facebook-Nutzer, betreffen.

Dass den vier Vermeer-Bildern 20 Gemälde von Delfter Malern aus dem Bestand der Dresdner Gemäldegalerie zugesellt worden sind, auch etliche Leihgaben von Werken weiterer berühmter Namen, das muss wohl so sein, ein Museum möchte ja auf die Sammlung mit ihren zahlreichen Schätzen auch im Depot aufmerksam machen. Für den Besucher mindert es nicht die Aufmerksamkeit auf die Hauptsache. Im Gegenteil, schon ein schneller Vergleich zeigt, dass der selbst- und zielbewusste holländische Künstler des »Goldenen Zeitalters« zwar Einflüsse aufgenommen, Vorbilder besessen, Nachahmer angeregt hat, aber doch herausragend ist. Die Kraft seiner Bilder zieht uns sofort wieder in ihren Bann. Wir erhalten Nachhilfeunterricht in wichtigen Lebensfragen.

Der frühe Vermeer. Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Semperbau am Zwinger, Theaterplatz 1, bis 28. November, Di-So 11-18 Uhr. Katalog.

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