Blauflügelige Ödlandschrecke statt Bundeswehr

Bundestagsfraktion der LINKEN zeigt in Broschüre die Spielräume für eine friedliche Entwicklung der Kyritz-Ruppiner Heide

Die sowjetischen Streitkräfte verwandelten die Kyritz-Ruppiner Heide seit Mitte der 1960er Jahre in einen riesigen Gefechtsübungsplatz. Nahezu täglich schossen Panzer und Artillerie. Tag für Tag trainierten Piloten mit Flugzeugen und Hubschraubern bis zu 15 Stunden lang. Sie warfen dabei bis zu 250 Kilogramm schwere Bomben oder feuerten Raketen ab. So ging es bis Anfang der 90er Jahre. Die Bundeswehr schätzte die Zahl der Blindgänger auf dem Gelände einmal auf 1,5 Millionen. Wer dies weiß, spricht nicht leichtfertig von einer vollständigen Beseitigung der Altlasten.

Dies wäre eine »unrealistische Option«, vermerkt Tom Kirschey. Der Landesvorsitzende des Naturschutzbundes erstellte eine Broschüre »Kyritz-Ruppiner Heide – natürlich entwickeln«. Den Auftrag erteilte ihm die Linksfraktion im Bundestag. Sie brachte das 30 Seiten umfassende Material heraus. Dabei gehe es »ausdrücklich nicht um Vorentscheidungen oder Konzepte«, versichert die Bundestagsabgeordnete Kirsten Tackmann im Vorwort. »Es sollen Entscheidungsspielräume beschrieben werden.«

Mit über 100 Protestwanderungen und juristischen Schritten kämpften Friedensaktivisten, Umweltschützer und die Tourismusbranche gegen den von der Bundeswehr ursprünglich anvisierten Luft-Boden-Schießplatz. Es gelte nun, aus dieser »Allianz dagegen« eine »Allianz dafür« zu machen, meint Tackmann, die selbst in der Gegend wohnt und sich jahrelang für eine freie Heide engagierte.

Im April hatte Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg (CSU) endgültig auf die militärische Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide verzichtet, erinnert die Politikerin. Damit sei der Weg für eine zivile Zukunft frei. Die Anwohner und ihre Besucher möchten dieses Stück Heimat wieder erleben können, berichtet Tackmann. Arbeitsplätze sollen entstehen, die Natur sei ein schützenswertes Gut.

Viele Fragen müssen noch geklärt, viele Probleme gelöst werden. Gefahren für Leib und Leben müssen ausgeschlossen werden, betont Kirschey. Deshalb bleibt wohl zunächst nichts anderes übrig, als die Blindgänger lediglich von einigen Wanderwegen zu räumen und nur diese Wege freizugeben. Kirschey verweist auf eine solche Vorgehensweise der Heinz-Sielmann-Stiftung in der Döberitzer Heide sowie der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg in der Lieberoser Heide.

Schwierigkeiten bereitet indessen längst nicht nur die Munition. Zu den Altlasten gehören Schwermetalle, Kohlenwasserstoffe und andere Rückstände, die das Grundwasser gefährden, sowie Abfalldeponien und Bunker.

Außerdem wäre beispielsweise zu entscheiden, ob die Kyritz-Ruppiner Heide eine Heidelandschaft bleiben soll oder ob sich der Wald wieder ausbreiten darf. Durch wühlende Panzerketten und diverse Brände hatte sich bis 1992 eine mehr als 9000 Hektar große Sandwüste gebildet. Es breitete sich lediglich Heidekraut aus. Doch so sehe es dort heute nicht mehr aus, notiert Kirschey. Stellenweise fassten Gehölze schon wieder Fuß. In keinem anderen Staat dieser Welt werde es als Problem angesehen, wenn sich die Wildnis auf natürliche Weise verändert. Dies sei typisch deutsch und habe Tradition. Denn in Deutschland habe man schon Ende des 19. Jahrhunderts von Naturdenkmalpflege anstatt von Naturschutz gesprochen. Dahinter stehe der Gedanke, die Natur bedürfe der Pflege, um sie in ihrem Zustand zu konservieren.

Es würde mehrere Möglichkeiten geben, die Heidelandschaft zu erhalten, etwa Mähen, Schafe und Ziegen weiden lassen oder kontrollierte Brände. Alle diese Maßnahmen wären durch die Munitionsbelastung eingeschränkt, gibt Kirschey zu bedenken.

Zwar seien einige Tierarten in Deutschland selten und hier fast nur auf Truppenübungsplätzen zu finden. Doch seien bestimmte Tagfalter, Heuschrecken, Vögel und Reptilien hauptsächlich im Mittelmeerraum und in kontinental geprägten Gegenden Osteuropas verbreitet. Es sei deshalb für die Erhaltung dieser Arten überhaupt nicht notwendig, sie mit hohem Aufwand auf ehemaligen Truppenübungsplätzen zu halten. Verantwortlich sei die Bundesrepublik dann, wenn hier ein nennenswerter Anteil der gesamten Population einer Art lebe. Bei den Heuschrecken konnten bisher 16 Arten entdeckt werden, so die Blauflügelige Ödlandschrecke und die Gefleckte Keulenschrecke.

Als Schlussfolgerungen vermerkt die Broschüre: Ein Nutzungskonzept für die Kyritz-Ruppiner Heide sollte in einem »zivilgesellschaftlichen Dialog erarbeitet werden und die regionalen Interessen berücksichtigen, um eine größtmögliche Akzeptanz zu erreichen«. Der Naturschutz stehe einem naturnahen Tourismus nicht entgegen, sondern er könne dazu beitragen, das Gelände für Urlauber attraktiver zu machen. Das Areal müsste in öffentlicher Hand bleiben.

Die Bundeswehr will sich bis zum 30. September 2011 zurückziehen. Übernehmen soll die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben.

  • In der Kyritz-Ruppiner Heide leben Ziegenmelker, Sperbergrasmücke, Heidelerche, Neuntöter, Raubwürger, Kranich, Wiedehopf, Schwarzspecht, Seeadler, Fischadler und Wanderfalke. Alle diese Vogelarten stehen unter Schutz.
  • Allein in der Laubwaldparzelle bei Neu-Lutterow konnten 25 Reviere des Schwarzspechts festgestellt werden.
  • Obwohl es wenige Gewässer in der Kyritz-Ruppiner Heide gibt, sind bislang zwölf Libellenarten nachgewiesen, darunter die in Deutschland vom Aussterben bedrohte Grüne Mosaikjungfer, die mit einer kleinen Population den Raderrangsee besiedelt.
  • Der Wolf ist in der Kyritz-Ruppiner Heide ebenso unterwegs wie es die Mopsfledermaus ist.
  • Blindschleiche, Waldeidechse und Ringelnatter sind in dem Gebiet häufig anzutreffen.
  • Die Heide-Feldwespe ist mit einer auffallend hohen Dichte von bis zu drei Nestern auf zehn Quadratmetern vertreten.
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