Wem gehören die Straßen und Plätze?

»Politik, Ökonomie und Ästhetik des öffentlichen Raums« – Gedanken zu einem Workshop in Berlin

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 8 Min.

Der öffentliche Raum ist eine bedrohte Ressource. Verkehrsströme überfluten ihn, selbst wenn sie stocken. Verschuldete Kommunen verkaufen ihn – und schaffen so die Basis für künftige Ausgrenzungen, die von den Zugangskriterien der neuen Besitzer verursacht werden. Terrorwarnungen verwandeln öffentliche Plätze in Sperrzonen. Werbebanner kontaminieren sie. Immer weiter aufs Trottoir ausgreifende Warenbestände muten den Passanten einen Hindernislauf zu; sie sprechen den Citoyen lediglich in seiner Schrumpfform – als Konsument – an. An den Stellen schließlich, an denen kein Gewerbetreibender auf ein Minimum an verkaufsfördernder Appetitlichkeit achtet, verwahrlost der öffentliche Raum, weil die Städte das Geld für die Pflege nicht mehr aufbringen können und weil auch die Bewohner ihn nicht mehr in Anspruch nehmen, da er ihnen als ein potenziell gefährlicher Transitraum verleidet ist.

Ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt der ihr eigene Raum nur noch, wenn Teilgruppen ihn temporär besetzen: Demonstranten und Jahrmarktbesucher, zu vereidigende Soldaten und im Straßenraum arbeitende Künstler, friedliche Fanmeilenbenutzer und testosterongetriebene Hooligans, Obdachlose, die nirgendwoanders hin können und Partymob, der woanders nicht hin möchte, lösen bei anderen Teilgruppen Zorn, Widerspruch oder Angst aus. Gemeinsinn stiftet der öffentliche Raum nur noch, wenn er bedroht ist: Geplante Baumfällungen – siehe Stuttgart 21 und Berliner Gendarmenmarkt – münden in schichtenübergreifende Erregungszustände. Ebben diese ab, verschwindet auch der kurzzeitig zurückeroberte Raum wieder vom Radar. So zumindest war es bisher.

Man muss bis an Europas Südgrenze, um den öffentlichen Raum noch in seiner alten Pracht zu erleben. Die Piazza am alten Hafen von Lipari ist mit Marmorplatten bedeckt. Kinder spielen Fußball darauf. Fischer haben sich auf Pollern niedergelassen und flicken ihre Netze. Touristen nehmen an den Tischen, die die Betreiber der anliegenden Bars und Restaurants auf dem öffentlichen Straßenland aufgestellt haben, Platz und genießen die Szenerie. Sie können sie wieder genießen, seit die Verwaltung der Mittelmeerinsel sich entschloss, das Gros des Fährverkehrs zum neuen Hafen ans andere Ende der Stadt zu verlagern. Durch diese Maßnahme sind die wartenden Taxis und auch die vielen Pkw und Kleinbusse, die an- und abreisende Gäste transportierten, verschwunden. Die Piazza der Marina Vecchia gehört wieder Menschen, die verweilen.

Bestes Sinnbild für diese Rückverwandlung ist eine Slow-Food-Initiative, die frisch vor der Küste gefangene Tintenfische nach regional typischen Rezepten zubereitet und an improvisierten Tischen mitten auf dem Platz kostenlos anbietet. »Das ist lecker. Geht zu ihnen rüber, holt euch einen Teller und setzt euch dann wieder zu uns«, sagt die Wirtin des Restaurants, an dessen Tischen wir sitzen. Sie wertet ihre eigenen Umsatzeinbußen geringer als das Erlebnis, das die gemeinnützige Initiative generiert und das den Ort, an dem sie ihr Geschäft betreibt, attraktiver macht. Sie selbst holt sich ein Tellerchen und isst.

Drei Polizisten schlendern vorbei. Interessiert schauen sie auf Töpfe und Bleche. Sie lassen geduldig Fotos von sich machen, als eine russische Reisegruppe sie entdeckt und vollkommen fasziniert von den Uniformen diesen Moment der Begegnung so festhalten will, wie dies italienische Touristen mit nachgeborenen Rotarmisten vor dem Lenin-Mausoleum zu tun pflegen.

Nach der Fotosession nimmt einer der Polizisten plötzlich ein Maßband heraus und beginnt den Raum auszumessen, in den die Tische und Stühle vorgedrungen sind. Wer regelmäßig Lipari besucht hat, dem wird über die Jahre das Vorrücken der Gastronomiefronten auf die Piazza aufgefallen sein. Beim bisherigen Tempo dieses Wucherns lässt sich abschätzen, dass in wenigen Jahren der Platz zum Fußballspielen auf Zimmergröße geschrumpft sein wird und die Fischer das Netzeflicken – wenn sie nicht auf dem Schoß von Cappuccino trinkenden Müßiggängern landen wollen – wieder auf ihre Boote verlagern müssen.

»Wir prüfen, ob die Wirte innerhalb des erlaubten Rahmens ihre Tische aufstellen«, erklären die Polizisten. Als sie abziehen, beschwert sich die Wirtin: »Die Kommune ist geldgierig. Von einem Jahr auf das andere haben sie die Gebühr für die Nutzung des Straßenlands verdreifacht. Unser Umsatz verdreifacht sich aber nicht. Außerdem müssen wir zwölf Monate zahlen, stellen aber nur zehn Monate die Tische auf.«

Ob die Kommune wirklich geldgierig ist oder ob sie nur angemessenes Nutzungsentgelt für die aus Steuermitteln restaurierte Piazza verlangt, ist nicht unmittelbar zu klären. Der Konflikt zeigt aber wie in einem Brennglas die Problematik unterschiedlicher Nutzerinteressen auf einer Fläche, die allen gehört, auf. Touristen wollen in Ruhe sitzen, essen und trinken, dabei nicht von Fußbällen getroffen werden, aber doch idyllisches, ursprüngliches Alltagsleben wahrnehmen. Die Fischer wollen ihrem Gewerbe nachgehen. Sie wissen aber auch, dass sie ohne ihre Frauen, die im Ort die Pensionen, Bars und Scooterverleih-Stationen betreiben, ihre Familie nicht mehr durchbringen könnten. Die Gastronomen wollen ihre Tische am liebsten bis zum Horizont aufstellen; bei den klügeren unter ihnen hat sich aber herumgesprochen, dass die zahlungskräftige Kundschaft nicht auf andere zahlungskräftige Kundschaft, sondern viel lieber aufs Meer hinausblicken möchte. Der Expansion sind natürliche Grenzen gesetzt.

In Metropolen mit mehr und stärker ausdifferenzierten Interessengruppen bildet sich nicht so leicht eine derartige Balance heraus. Vielmehr ist kluges Handeln gefordert.

Um einen derartigen Prozess in Gang zu setzen, luden die Hermann-Henselmann-Stiftung und das Kommunalpolitische Forum zum Workshop »Politik, Ökonomie und Ästhetik des öffentlichen Raums« ein. Pikanterweise wählten die Veranstalter mit dem Neuen Stadthaus eine Immobilie aus, die gegenwärtig noch dem Bezirksamt Berlin-Mitte gehört, in Kürze aber – zum ausgesprochenen Bedauern des dortigen Baustadtrats Ephraim Gothe – veräußert werden soll, um Geld in die Kassen zu spülen. Dieses Brainstorming über den öffentlichen Raum geriet aus naheliegenden Gründen zu einem Treffen der besorgten Artenschützer.

Elfriede Müller vom Büro für Kunst im öffentlichen Raum skizzierte die Gefahren von Ausgrenzung und Segregation, die durch die Privatisierung öffentlichen Baulandes entstehen. Menetekel schlechthin ist der Potsdamer Platz, ein halb offenes, halb überdachtes Privatgelände, auf dem der Citoyen nur noch Konsument sei und private Wachschützer die Rolle des Hausherren übernähmen.

Claudia Hämmerling, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses (Bündnis 90/Die Grünen), wies auf die Geldnot der Kommunen hin, die pragmatisches Handeln nötig machten. Sie kritisierte aber auch die undurchsichtigen Bereicherungsgeschäfte, die bei der Vermarktung des öffentlichen Raumes durch Großflächenwerbung entstehen. Sie hatte bereits an anderer Stelle vorgerechnet, dass die Stiftung Denkmalschutz Berlin durch die Großflächenwerbung am Brandenburger Tor 15 Millionen Euro an Einnahmen erzielt, für die Sanierung des Tors aber nur acht Millionen Euro ausgegeben hätte. Sie forderte mehr Transparenz und Effizienz ein und schlug regelmäßige Ausschreibungen für Werbung auf öffentlichen Plätzen vor.

Der Historiker Hans Coppi rief den ganz besonderen Konfliktfall Bebelplatz in Erinnerung. Die unsichtbare Bibliothek des israelischen Künstlers Micha Ullman, ein an historischer Stätte errichtetes Mahnmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten, wurde regelmäßig durch die Infrastruktur für Großveranstaltungen wie etwa die Fashion Week den Blicken und damit ihrer Wirkung entzogen. Die Fashion Week im Januar 2011 soll die letzte an diesem Ort sein, versprach Mittes Baustadtrat Gothe.

Ungeklärt blieb aber die Frage, welches Maß an Alltagsbenutzung ein solches Mahnmal verträgt. Denn alles, was sich auf die Bühne des Stadtraumes wuchtet – oder sich in seine Sedimente einlässt – muss mit Reibung rechnen. Es fordert sie geradezu heraus und lädt damit zu einer Bewusstwerdung der Gesellschaft über sich selbst ein. Diese Dynamik vergaßen die puristischen Verteidiger des öffentlichen Raumes. Sie ignorierten auch dessen Herkunft. »Der Ursprung des öffentlichen Raumes ist der Marktplatz als ein Raum des Handels von Gütern und Informationen«, bemerkte am Rande der Tagung der Kulturhistoriker Dietrich Mühlberg. Zwar sollte man von kapitalistischen Verkehrsformen nicht alles Heil erwarten, aber manches hat sich – siehe Floh- oder Lebensmittelmärkte – eben bewährt.

Die Attraktivität von öffentlichem Raum ist zudem abhängig von den Aneignungsformen. Unter dem Motto »Reclaim the Streets« versuchten in den 90er Jahren Aktionsgruppen, den öffentlichen Raum wieder als Treff- und Versammlungsstätte zu etablieren. Dies hat eine Fortsetzung im informellen Besetzen und Umschreiben des öffentlichen Raums wie etwa im Projekt der Prinzessinnengärten auf dem Moritzplatz in Berlin-Kreuzberg (www.prinzessinnengarten.net) erfahren. KünstlerInnenprojekte wie die Initiative »systemfehler_neustart«, die temporäre Demokratieverbesserungsmodule vor dem Reichstag und gegenüber dem Brandenburger Tor installieren will (www.froehlicher-untergrund.de), reaktivieren öffentliche Plätze ebenfalls in ihrer Funktion als Agora.

Nur die Kommerzialisierung abzuwehren reicht sicherlich nicht aus. Man muss Ideen zur Benutzung des öffentlichen Gutes entwickeln und zwischen den unterschiedlichen Zugriffsversuchen vermitteln können. Oberstes Kriterium sollte dabei nicht die Kapitalkraft einzelner Anbieter, sondern der größtmögliche Nutzen für eine Mehrheit der Betroffenen sein. Dazu allerdings müsste sich auch eine Verwaltung ändern. In Berlin wird gegenwärtig nach Sondernutzungsrecht verfahren. »Für jeden der relevanten öffentlichen Plätze haben wir eine Positiv- und eine Negativliste. Außerdem gibt es eine zeitliche Beschränkung. Der Alexanderplatz wird an maximal 120 Tagen im Jahr für Sondernutzungen freigegeben«, erläuterte Baustadtrat Gothe. Das bedeutet: Wer zuerst kommt und den Kriterien entspricht, erhält den Zuschlag. Das ist passives Verwalten. Der Teufelskreis aus mangelndem öffentlichen Geld, fortschreitender Verwahrlosung, privater Zerstückelung und Sperrung je nach Sicherheitslagen ist so nicht zu durchbrechen.

Der Workshop »Politik, Ökonomie und Ästhetik des öffentlichen Raums« fand am 29. November statt. Organisiert wurde die Veranstaltung vom Kommunalpolitischen Forum Berlin und von der Hermann-Henselmann-Stiftung.

Das 1992 gegründete Kommunalpolitische Forum ist ein Verein für Fort- und Weiterbildung in landes- und bezirkspolitischen Fragen.

Die nach dem Architekten Hermann Henselmann benannte Stiftung, errichtet von dessen Sohn Andreas Henselmann, hat sich u.a. der Auseinandersetzung mit sozialen und kulturellen Aspekten des Bauens verpflichtet.
Der Name Hermann Henselmann (1905–1995) ist eng verbunden mit der Architektur und dem Städtebau der DDR in den 1950er und 1960er Jahren. Nach seinen Plänen wurden prägende Bauten der Berliner Karl-Marx-Allee, das Berliner Haus des Lehrers samt Kongresshalle sowie die Hochhäuser der Karl-Marx-Universität Leipzig und der Universität Jena errichtet.

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