Der fehlende dritte Mann

Kurz vor Überreichung des Physik-Nobelpreises gibt es Streit um richtige Begründung

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenige Tage bevor am kommenden Freitag in Stockholm der schwedische König die Nobelpreise übergibt, wirbelt ausgerechnet einer der sonst eher wenig umstrittenen Preise einigen Staub auf. Das Fachjournal »Nature« berichtete vergangene Woche, dass der US-Physiker Walter de Heer vom Georgia Institut of Technology in Atlanta sich in einem Brief an das Nobelkomitee der Schwedischen Akademie der Wissenschaften über Fehler in dem zur Begründung der Vergabe des Physik-Preises an Andre Geim und Konstantin Novoselov verfassten »Wissenschaftlichen Hintergrund« beschwert hat. Der Vorsitzende des Nobelkomitees, Ingemar Lundström, räumte gegenüber »Nature« ein, dass es Fehler gegeben habe, und tatsächlich findet sich auf der Website der Nobelstiftung inzwischen eine Fassung des Textes mit kleinen Korrekturen.

Der eigentliche Streitpunkt zwischen de Heer und dem Nobelkomitee ist damit allerdings nicht ausgeräumt. Der US-Physiker hält nämlich die Beiträge weiterer Forscher in dem Papier für unterbewertet.

Der Streit ist nicht nur akademisch. Geht es doch um ein vielversprechendes Material für die Mikroelektronik der Zukunft, an dem weltweit mit Nachdruck geforscht wird: Graphen (mit langem e).

Genau genommen hatte so ziemlich jeder schon mit diesem Material zu tun – beim Schreiben mit einem Bleistift. Der Bleistiftstrich auf dem Papier nämlich besteht aus unzähligen Fetzen dieses potenziellen Hightech-Materials. Denn die Mine des Bleistifts besteht in der Hauptsache aus Graphit. Das ist neben dem Diamant die zweite in der irdischen Natur vorkommende Form reinen Kohlenstoffs. Doch während der Kohlenstoff im Diamant ein dreidimensionales Kristallgitter aufbaut, bildet er im Graphit zahllose übereinander gestapelte Schichten von maschendrahtartig vernetzten Atomen. Diese zweidimensionale, nur atomdicke Kohlenstoff-»Folie« nennt man Graphen. Derartige maschenartig verbundene Kohlenstoff-Riesenmoleküle kannte man bisher nur in Form von Kugeln oder winzigen Röhrchen, den Fullerenen. Dass Graphit aus atomdicken Graphenschichten aufgebaut ist, war ebenso wie einige der besonderen elektrischen Eigenschaften theoretisch schon seit den 1940er Jahren bekannt. Allein es gelang nicht, diese Schichten zu isolieren. Lange glaubte man, dass sich solche dünnen Schichten ohnehin sofort wieder zerknittern würden, wenn es denn gelänge, sie vom Graphit abzulösen.

Das nun – so versteht der Würzburger Festkörperphysiker Hartmut Buhmann die Begründung des Nobelpreises für Geim und Novoselov – ist die eigentliche Leistung der beiden aus Russland stammenden und heute an der Universität Manchester (Großbritannien) arbeitenden Physiker. Ihnen gelang es mit einem erstaunlich billigen Mittel, einzelne Graphenschichten abzulösen. Zudem hatten sie ein verlässliches optisches Verfahren entwickelt, mit dem man nachweisen kann, ob es sich tatsächlich um eine einlagige Graphenschicht handelt. Wie schon berichtet, benutzten sie einfache Klebstreifen, die sie um Graphitstückchen legten und dann wieder auseinanderzogen und das kleben gebliebene Material auf eine Siliziumoxidunterlage drückten. Das Verfahren und erste Messungen an dem Material stellten sie im Oktober 2004 im Fachblatt »Science« (Bd. 306, S. 666) vor. Und da setzt de Heers Kritik an: Die dort – und im Hintergrundartikel des Nobel-Komitees – abgebildeten Messkurven zeigen laut de Heer Ergebnisse an sehr dünnen, aber eben noch Graphitschichten. Der Physiker aus Atlanta schreibt, dass Geim und Novoselov erst ein Jahr später, gleichzeitig mit der Arbeit eines Teams um Philip Kim von der Columbia University New York Messungen an einschichtigem Graphen veröffentlicht hätten. De Heers Einwände dürften in der Physikergemeinde Gewicht haben. Immerhin ist er Hauptautor einiger der wichtigen experimentellen Arbeiten zu Graphen, wie auch das Nobelkomitee in dem kritisierten Text festhält.

Nobelpreisträger Geim ist der Meinung, vor allem Kim habe »einen bedeutenden Beitrag« geleistet. Er hätte deshalb gern »den Preis mit ihm geteilt«. Möglich wäre das nach den Satzungen der Nobel-Stiftung gewesen: Der Preis darf zwischen maximal drei Wissenschaftler aufgeteilt werden.

Doch die Kritik von de Heer geht wesentlich weiter. Er hält die Preisverleihung für dieses Forschungsgebiet überhaupt für verfrüht. Tatsächlich zeigt sich seit 2004 bei Graphen eine ähnliche Entwicklung wie bei den bereits erwähnten Fullerenen. Diese Kohlenstoffmoleküle wurden 1970 theoretisch vorhergesagt und 1985 erstmals synthetisiert. 1995 gab es dafür den Chemie-Nobelpreis für Robert F. Curl jr. (USA), Harold W. Kroto (England) und Richard E. Smalley (USA). Eine wahre Flut wissenschaftlicher Publikationen folgte der Synthese der Moleküle. Besonders den röhrenförmigen Fullerenen (Nanotubes) wurde damals eine große Zukunft als Elektronikmaterial oder Supraleiter vorhergesagt. Eingetroffen ist von diesen Prognosen bisher nur wenig. Dafür konnte man Fullerene in diesem Jahr erstmals im Weltraum nachweisen.

Ob Graphen einen ähnlichen Weg vor sich hat, bleibt abzuwarten. Immerhin fand man bei dem Material bereits mehrere sehr gefragte technische Eigenschaften. Graphen ist extrem dünn, so dünn, dass es durchsichtig ist, zugleich härter als Diamant und zugfester als Stahl. Darüber hinaus ist es trotz seiner geringen Dicke gasdicht, leitet Strom besser als Silizium und Wärme besser als Kupfer. Es muss also nur noch gelingen, Graphen preisgünstig und großflächig herzustellen.

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