Häufiger die Glocken nirgendwo klingen

Das flämische Mechelen ist die Hauptstadt des Glockenspiels

  • Ulrich Traub
  • Lesedauer: 5 Min.
Das Glockenspiel im Kirchturm der St.-Rombouts-Kathedrale von Mechelen
Das Glockenspiel im Kirchturm der St.-Rombouts-Kathedrale von Mechelen

Das sieht nach harter Arbeit aus. Mit den Fäusten werden die hölzernen, in zwei Reihen übereinanderliegenden Hebel mal sanft, mal energisch nach unten gedrückt. Die Füße treten in schneller Folge die Pedale. Ständig schwingt der Oberkörper mit – nach vorne und zur Seite. Nur so kann die gesamte Breite dieser vielteilig-klobigen Klaviatur, die wirkt, als wäre sie aus einer längst vergangenen Zeit übrig geblieben, bedient werden.

Eddy Mariën sitzt in luftiger Höhe vor einem Glockenspiel, dem größten Instrument der Welt. Hoch oben im Kirchturm der St.-Rombouts-Kathedrale im flämischen Mechelen bringt er die 49 Glocken zum schwingen. Vier Oktaven umfassen sie und wiegen – je nach Größe – zwischen acht Kilo und acht Tonnen. Es scheint fast so, als bedürfe der gewaltige Sound, der einem beim Bummel durch die Straßen des Ortes begleitet, der den inoffiziellen Titel Hauptstadt des Glockenspiels beanspruchen darf, eines großen Körpereinsatzes. »Das sieht schlimmer aus als es ist«, beruhigt der Glockenspieler. Anstrengend seien da schon eher die fast 400 Stufen, die zu seiner Glockenspielstube führen.

Oben angekommen, prüft Eddy Mariën die Zugdrähte, die die Klaviatur mit den Klöppeln im Glockeninneren verbinden. »Sie müssen die richtige Spannung haben, damit sich der volle Klang entfalten kann.« Dann drückt der Glockenspieler einzelne Hebel und Pedale. Auch diese Stimmprobe ist sozusagen öffentlich. »Das gehört eben dazu.« Bald wird drei Uhr geschlagen, das einstündige Konzert am Sonntagmittag beginnt. Auf »Nessun dorma« von Giacomo Puccini folgen Kompositionen von Beethoven, Mozart und Camille Saint-Saëns, ein Chanson von Nino Ferrer und ein Fado. Es ist ein anregender Mix aus vertrauten und weniger bekannten Melodien, den der Glockenspieler immer wieder neu zusammenstellt. »Fast alle Kompositionen müssen für das Glockenspiel umarrangiert werden«, erklärt Eddy Mariën, »und jetzt zu Weihnachten sind es viele Stücke, die zum Fest einfach dazugehören.«

»Ich bin so was wie ein großes Radio«, antwortet der Musiker ganz unprätentiös auf die Frage, ob es ihn nicht störe, sein Publikum nie zu sehen. Aber er weiß natürlich auch, dass das Glockenspiel ein Wahrzeichen Mechelens ist und dass sich immer wieder Zuhörer auf dem Grote Markt im Schatten des mächtigen Kirchturms einfinden. Als Besucher Mechelens, das auf halber Strecke zwischen Brüssel und Antwerpen liegt, bleibt man unwillkürlich stehen, wenn das Spiel der 49 Glocken ertönt. Dann ist die ganze Stadt Klang und Melodie.

Ob der Turm schwankt, mag sich manch einer angesichts des gewaltigen Musikklangs fragen. Keine Bange, er steht so fest wie seit dem 16. Jahrhundert, als er der höchste Kirchturm der Welt werden sollte. Bei 98 Metern ging jedoch das Geld aus, und so blieb es bei dieser Höhe. Heute sorgt er nicht nur für den »Soundscape der Stadt«, wie Eddy Mariën es ausdrückt. Er gehört als Belfried – mit dem kleinen Bruder am Rathaus – auch zum UNESCOWeltkulturerbe.

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Das Glockenspiel hat in Flandern eine lange Tradition, sie reicht bis ins Mittelalter. Es war ein Statussymbol der freien Städte. In Mechelen, das im 15. Jahrhundert Hauptstadt des Burgunderreiches, danach der Habsburgischen Niederlande war und seit nun 450 Jahren Sitz des Erzbischofs von Flandern ist, wird diese Tradition auf vielfältige Weise gepflegt. Im Turm der Kathedrale gibt es noch ein zweites, ebenfalls spielbares Glockenspiel. Die ältesten Glocken wurden bereits Ende des 15. Jahrhunderts gegossen. Weitere Glockenspiele befinden sich in der Hanswijk-Kirche und im Besitz der Stadt, die ihr mobiles Spiel beim Marienumzug im Mai einsetzt. Das Glockenspiel im Turm des Hofes van Busleyden, dem Wohnhaus eines einflussreichen Humanisten, in dem heute das Stadtmuseum seine Sammlungen ausbreitet, wird zu Übungszwecken genutzt. Denn in Mechelen kann man das Spiel auf den Glocken auch lernen.

Die 1922 gegründete Königliche Glockenspielschule ist die älteste der Welt. Sie trägt den Namen des Stadtglockenspielers Jef Denyn, der Ende des 19. Jahrhunderts das Glockenspiel wiederbelebte und die noch heute ausgetragenen Konzerte ins Leben gerufen hat. Die Gründung der Schule verdankt sich übrigens nicht zuletzt großzügiger Spenden der Amerikaner Herbert Hoover und John D. Rockefeller. Beim Besuch in dem verwinkelten Stadthaus aus dem 18. Jahrhundert, der zum Programm der Stadtführungen gehört, trifft man junge Menschen aus aller Welt. Ein Chinese erzählt, sein Traum sei es, in Hongkong als Glockenspieler zu arbeiten. 60 Studenten aus zwölf Ländern werden zurzeit ausgebildet. Das Studium an der Königlichen Glockenspielschule, in der es auch ein Museum gibt, dauert maximal zehn Jahre. Bevor die Studenten den Turm erklimmen dürfen, müssen sie sich auf Übungsklavieren, bei denen die Glocken durch Metallplättchen ersetzt sind, bewähren.

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Mariën, der sein Hobby zum Beruf machen konnte, ist nicht nur einer von zwei von der Stadt bezahlten Musikern auf diesem besonderen Instrument, sondern auch Dozent an der Mechelner Schule. Konzertreisen führten ihn bis nach Australien und Neuseeland. Nein, als Vertreter einer aussterbenden Zunft sehe er sich nicht. Im Gegenteil, es herrsche kein Nachwuchsmangel. Als Musiker und Komponist verfolgt Eddy Mariën ein besonderes Ziel: »Ich arbeite an der Kombination des Glockenspiels mit anderen Instrumenten wie Gitarre oder Vibrafon.« Er trägt dazu bei, dass der Ruf der Stadt als Mekka des Glockenspiels weiter gestärkt wird. Das russische Wort für Glockenspiel lautet übrigens »Malinovi Svon«, was so viel heiße wie Glocken von Mechelen, berichtet er stolz.

Der Klang der Glocken bestimmt den Rhythmus beim Erkunden der historischen Stadt. Alle sieben Minuten erschallen vom Turm von St.-Rombouts Melodien. Drei Mal in der Woche setzen sich Eddy Mariën und seine Kollegen an ihr Instrument. Wohl kaum eine andere Stadt hat den öffentlichen Klang so zu ihrem Markenzeichen gemacht. Im flämischen Mechelen scheint das Herz tatsächlich im Takt der Glocken zu schlagen.

  • Infos: Tourismus Flandern-Brüssel, Cäcilienstrasse 46, 50667 Köln, Tel.: (0221) 270 97-70, Fax:-77, E-Mail: info@flandern.com, www.flandern.com oder
  • Tourismus Mechelen, Hallestraat 2-4, B-2800 Mechelen; www.tourismusmechelen.be
  • Glockenspiel-Konzerte in der St.-Rombouts-Kathedrale finden jeden Samstag und Montag um 11.30 Uhr sowie sonntags um 15 Uhr statt. (Dauer je eine Stunde).
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