Prothesen für Engel

In Bernsbach kümmert sich Ingrid Süß um lädierte Weihnachtsfiguren – und um Kindheitserinnerungen

  • Steffi Schweizer
  • Lesedauer: 3 Min.
Engel ohne Instrumente, angebrannte Räuchermännchen, Bergmänner ohne Arm – mit einer Reparatur gibt sich kaum noch jemand ab. Doch Ingrid Süß aus dem Erzgebirge nimmt sich der Versehrten an, ohne sie gleich auf neu zu trimmen. Aber eigentlich geht es bei ihrer Arbeit meist um mehr – um weihnachtliche Erinnerungen.
Der Behandlungstisch der »Engeldoktorin«: Ingrid Süß kümmert sich auch um die komplizierten Fälle.
Der Behandlungstisch der »Engeldoktorin«: Ingrid Süß kümmert sich auch um die komplizierten Fälle.

Wer an der Tür von Ingrid Süß in Bernsbach bei Aue klingelt, trägt vorsichtig einen Korb oder ein kleines Päckchen. Was dann auf dem Werkstatt-Tisch der 50-Jährigen zum Vorschein kommt, sieht oft ziemlich traurig aus: den kleinen Weihnachtsengeln fehlen nicht nur die Instrumente, sondern Hand und Bein, den Räuchermännern Nase, Hut und Bart, einem Bergmann der komplette linke Arm. Manche Figur steht gar völlig gesichtslos da. Folgen von Sturz-, Stoss- und sehr oft Brandverletzungen. Dazu kommen die gescheiterten Rettungsversuche derer, die sie bringen.

Zwei Stunden Autofahrt haben Christine und Ulrich Eckhardt aus Reichenbach im Vogtland auf sich genommen, um ihre Figuren rechtzeitig zur Adventszeit wieder nach Hause zu holen. Räuchermann und Nussknacker sind über 100, der Engel 50 Jahre alt.

»Seit ich denken kann, gehören sie in mein Leben«, sagt die 60-jährige Christine Eckhardt. »So wie der große Baum in der guten Stube meiner Großeltern mit den Äpfeln und den echten Kerzen. Das ist für mich Weihnachten.« Herr Eckhardt nickt: »Wer Wurzeln im Erzgebirge hat, packt am 1. Advent die Männeln aus und stellt die Schwibbögen ins Fenster.«

Der Nussknacker von Christine Eckhardt ist eine wahre Rarität. Selbst Frau »Engeldoktor« bekennt: »Solch einen hatte ich noch nie in der Hand. Der hat gar keine Zähne ...« Dafür besitzt er nun eine glänzende goldene Kugel und wieder einen neuen Bart.

Überraschende Marktlücke

»Bis in die 1950er Jahre hinein gab es solche schönen Sachen wie Spieluhren, Pyramiden und Engel noch im DDR-Handel«, erinnert sich Ingrid Süß. »Später ging das meiste in den Export. Aber mein Vater war Handwerker und hat nebenbei zu Hause gedreht.« Sie saß dabei und malte die kleinen Holzfiguren an. Dann lernte sie Buchhalterin, ging in ein Lohnbüro, bekam zwei Töchter und arbeitete später für Kunsthandwerksfirmen. Sie klebte täglich 400 Holzarme an 200 Räuchermänner, bemalte Köpfe, nähte Mützen und flocht Zöpfe aus Hanf. Doch die Arbeit wurde immer weniger, zuletzt stellte die Firma vor allem Schwibbögen her.

Hatte die Autodidaktin ihre wahre Berufung bis dahin nur nebenbei ausgelebt, machte sie sich nun selbstständig. Sie ging auf Märkte und stieß zu ihrer eigenen Überraschung auf eine Marktlücke. »Die großen Hersteller raten eher, neu zu kaufen. Da sei man besser dran. Mit der Reparatur gibt sich niemand mehr ab.« Wenn die einarmigen, beinamputierten oder flügellosen Versehrten aus Holz vor Frau Süß stehen, erfolgt zuerst die Diagnose. Dann unterzieht sie ihre »Patienten« beherzt mit Seife und Lappen einer Grundreinigung. Sehr oft sucht und fertigt sie aufwendig »Prothesen«.

Und dann gibt es die komplizierten Fälle. Uralte Farbe lässt sich schwer entfernen oder am Kopf klafft unterm Haar ein böser Riss. Geduld und Akribie sind gefragt, klitzekleine Keile werden passgenau einleimt, Augen neu gemalt. Dafür nutzt sie feinste Pinsel und Stäbchen.

Altersspuren bleiben

Ingrid Süß kennt sich aus mit Materialien, Farben, Spachtelmasse und Trockenzeiten. Aber auch mit der Geschichte der Erzgebirgischen Volkskunst. Sie trimmt nichts auf neu, lässt Altersspuren bewusst stehen, bleibt nah an den historischen Vorbildern. Dabei orientiert sie sich an Büchern und Katalogen. Der Preis für ihre Arbeit lässt sich selten im Voraus bestimmen. »Ich arbeite so lange, bis ich mich selbst daran freue«, sagt sie, »und kalkuliere Preise, die mich nicht reich, aber zufrieden machen.«

Zufrieden wirkt auch Frau Eckhardt, als sie ihre Kostbarkeiten wieder vorsichtig verpackt. Frau Süß weiß warum: »Es sind die Erinnerungen.«

Informationen im Internet unter: www.Restaurierung-Holzfiguren.de

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