Großmaul des Jahres

Aufschneider und Alleskönner Kanye West

  • Michael Saager
  • Lesedauer: 3 Min.

Jetzt, wo das früh verwinterte Jahr endlich zur Neige geht, um Platz für besseres Wetter, vor allem aber für noch mehr tolle Projekte, wahrhaft waghalsige Ziele und phänomenale Überraschungen im nächsten Jahr zu machen, wird wie immer eifrig bilanziert: in Form epischer Jahresrückblicke auf allen Kanälen des Fernsehens und allerhand Bestenlisten in bald sämtlichen Zeitschriften und Zeitungen, so genannten Polls.

Man muss sagen: Was Mainstream-Pop anbelangt, war das Jahr 2010 so lala.

An drei Ereignisse können wir uns mit etwas Gedächtnisglück noch erinnern: An die Wiederkehr des großen Gefühls-Dandys Bryan Ferry und sein Album »Olympia«; an die synchrone Wiederbelebung fünf inzwischen alt gewordener neurotischer Boys unter dem Namen Take That; und drittens an das einzige Mainstream-Popalbum wirklich verschwenderischen Maßstabs aus den Händen eines noch größeren Großmauls, besser bekannt als Kanye West. Das Album heißt: »My Beautiful Dark Twisted Fantasy«.

Kanye West: Rapper, Hitzkopf, Selbstdarsteller, Jammerlappen, Spaßbremse, Angeber, Alleskönner. Man könnte die Liste munter fortsetzen, aber »wir haben ja nicht ewig Zeit« (Moritz von Uslar). Tatsächlich gibt es kaum ein Foto des 33-Jährigen, auf dem er nett ausschaut, nicht blasiert, arrogant, genervt. Einfach mal nett! Kann er nicht, weil er's nicht ist. Andererseits: Wie langweilig wäre das denn? Reicht ja hin, dass (angeblich) eitel Sonnenschein zwischen Robbie Williams und Gary Barlow herrscht.

Als Kanye West im letzten Jahr bei den MTV-Awards ausflippte und das Country-Sternchen Taylor Swift hart anpöbelte, weil er sehr viel lieber Schmuckstück Beyoncé Knowles von der Trophäe geziert gesehen hätte, wurde er von Barack Obama »Idiot« genannt. Tolle Geschichte. Pop, im Jahr 2010 noch egaler geworden, als er die Jahre zuvor bereits war, kann es sich gar nicht leisten, solche Gestalten nicht hervorzubringen. Das als Arschloch ausgewiesene Großmaul liefert Pop, dieser boulevardesken Anekdotenswissenschaft vom beinahe Immergleichen, noch die interessantesten Geschichten. Sie dringen einfach am stärksten durch.

Ein veritabler Künstler ist Kanye West außerdem. Und obschon er einem den Spaß mit seiner allzu typischen Mischung aus überzogenem Selbstmitleid und ans Manische grenzender Selbstüberschätzung bisweilen zu vermiesen droht – ja, Melodien für Millionen hat der Mann! Die Hälfte der Stücke hat annähernd die gleichen Ohrwurmqualitäten wie Coolios HipHop-Pophit »Gangsta's Paradise«. Dazu passt eventuell, dass diverse Mitglieder des Wu-Tang Clans ihre Rap-Skillz zum Besten geben. Und das, obwohl HipHop gemeinhin als tot gilt. Kanye West weiß das natürlich, deshalb wird umso mehr gesungen, von Rihanna, Elton John, Alicia Keys, den Indie-Folkern Bon Iver und einigen mehr. Die »Logik« dahinter ist die einer analogieartigen Redundanz: Wahre Größe muss sich durch sich selbst beweisen. Der größte Star der Welt holt möglichst viele große Stars an Bord. Dabei ist es natürlich nicht wichtig, ob ihre Stimmen einen größeren oder kleineren Beitrag zum musikalischen Gelingen liefern. Wie auch immer – Kanye Wests »My Beautiful Dark Twisted Fantasy« ist süffigster HipHop-Pop, psychedelisch ausufernd, opulent arrangiert, emotionalisiert mit Ghospel-Chören, satt gemacht mit fetten, trockenen, vertrackten Beats und rollenden, pumpenden Bässen, auf den melodischen Punkt gebracht mit einprägsamen Synthie- und leicht angeschmuddelten Gitarrenriffs, und schließlich exotisch veredelt durch allerhand afrikanischen Ethno-Zauber. Nah am Überwältigungs-Kitsch, aber nicht zu nah. Und daher tatsächlich ein dickes Ding.

Was man Kanye West indessen nicht wirklich abnimmt: den ernsthaften Kritiker US-amerikanischer Politik, den er etwa in »Power« gibt. Klar hat er recht, wenn er vom kaputten System, geschlossenen Schulen und extraweit geöffneten Gefängnissen redet. Doch viel mehr als Stammtisch-Gerappe ist das nicht. Eine Pose, die im Luxus des Albums verpufft oder verbrannt wird von der Sonne, die nur einen Namen kennt: Kanye West.

Kanye West: »My Beautiful Dark Twisted Fantasy« (Def Jam/ Universal)

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