Ganz viel Alltag

Frederick Wiseman über »La Danse«

  • Lesedauer: 2 Min.

ND: Herr Wiseman, muss man, um Ihren Film zu mögen, Ballett lieben, die elitärste aller möglichen Kunstformen?
Wiseman: Was heißt schon elitär? Auch Neurochirurgie verlangt nach Perfektion in den Bewegungen. Und auch an der Pariser Oper findet ganz viel Alltag statt. Um diese Suche nach körperlicher Perfektion zu finanzieren, muss erstmal Geld aufgetrieben werden. Es müssen Kostüme genäht, und es muss Essen für die Belegschaft gekocht werden. Jemand muss die Kulissen bauen – und hinter den metaphorischen Kulissen sind täglich sehr, sehr viele Entscheidungen zu fällen.

Es sieht aus als hätten Sie uneingeschränkten Zugang zu allen Bereichen gehabt, von den Probensälen über die Kantine bis ins Allerheiligste der Chefetage, das Büro von Brigitte Lefèvre, der Leiterin des Opernballetts.
Das stimmt, es gab keinerlei Auflagen. Ich schlug der Pariser Oper vor, einen Film über ihr Ballett zu machen, ich traf mich mit Brigitte Lefèvre, weil sie, wie das eben so ist in der hierarchisch strukturierten französischen Gesellschaft, der absolute Boss ist. Und zu meiner Überraschung stimmte sie sofort zu. Wie immer habe ich vorher gefragt, ob jemand Einwände dagegen hatte, bei der Arbeit gefilmt zu werden. Aber es kam kein einziger Einwand – es kommen selten Einwände. Und das ist nicht erst eine Folge der Mediengesellschaft, der Verbreitung von Kameras im täglichen Leben. Als ich 1966 meinen ersten Film drehte, war die Bereitschaft, sich filmen zu lassen, schon genauso groß wie heute.

Die steigende Mediengläubigkeit hat nicht dazu geführt, dass Menschen sich automatischvor der Kamera in Positur werfen?
Dazu sind die meisten Menschen gar nicht über eine längere Zeit in der Lage. Wenn sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren, vergessen sie die Kamera. Das war damals nicht anders, als ich 1968 für einen Film über die Arbeit der Polizei in Kansas City eine Polizeipatrouille begleitete und dabei filmte, wie ein Polizist eine Prostituierte in den Schwitzkasten nahm, weil sie bei ihrer Verhaftung einen seiner Kollegen geschubst hatte. Die Zuschauer waren entsetzt, der Polizist selbst hatte keinerlei Einwände vorgebracht, dass dieses Stück Film verwendet wurde. Er hatte sich vor der Kamera ja einfach so benommen wie immer.

Interview: Caroline M. Buck

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