Wanderung auf der Mittelstraße

Kleist-Jahr 2011: Das »unmögliche Interview« mit dem Dichter

  • Lesedauer: 8 Min.
Ein Dichter, der sich Zeit seines Lebens ausgeschlossen fühlt. Der 1777 in Frankfurt an der Oder geborene Heinrich von Kleist folgt der Tradition seiner Familie, er wird zunächst Offizier in einem preußischen Regiment, sucht – und hasst die Militärdisziplin. Er studiert, schreibt, reist, zwingt sich (kurz!) als Beamter ins Reformministerium Hardenbergs. Kleist stürzt von Krise zu Krise, erlebt eine tiefe Verunsicherung seiner aufklärerischen Überzeugung. Am 19. November 1811 teilt er der Cousine Marie von Kleist mit, »daß ich sterbe, weil mir auf Erden nichts mehr zu lernen und zu erwerben übrig bleibt«. Er erschießt am 21. November 1811 am Berliner Kleinen Wannsee erst seine Vertraute Henriette Vogel, dann sich.

Heinrich von Kleist, was ist anbetungswürdig am Leben?
Christus am Kreuz; eine Unschuld in Ketten, ohne Klage und Thränen; ein unerschrocknes Wort vor dem Tribunal blutgieriger Richter oder, wie Schiller sagt, Männerstolz vor Königsthronen.

Und was ist erhebend?
Ein Sonnenaufgang, ein Choral am Morgen

Der sehr entschiedene Kleist, und in der Entschiedenheit so unglücklich: »Ich will kein Amt nehmen.« Warum nicht? Warum so schnelle Abschiede aus Garderegiment und Ministerium?
Ich kann nicht eingreifen in ein Interesse, das ich mit Vernunft nicht prüfen darf. Ich soll tun, was der Staat von mir verlangt, und doch soll ich nicht untersuchen, ob das, was er von mir verlangt, gut ist. Zu seinen unbekannten Zwecken soll ich ein bloßes Werkzeug sein – ich kann es nicht.

Zitat Kleist: »Ein eigner Zweck steht mir vor Augen.«
Nach ihm würde ich handeln müssen, und wenn der Staat es anders will, dem Staate nicht gehorchen dürfen.

Wer Ihre Zurückgezogenheit von der Welt als Isolation bezeichnete, dem antworteten Sie, der Welt inniger verbunden zu sein als viele andere. Eine Innigkeit ganz aus Sehnsucht gemacht, Dazugehörigkeit empfinden zu dürfen. Die alte Wahrheit also: Den Einsamsten frag, was Liebe sei.
Wo ist der Platz, den man jetzt in der Welt einzunehmen sich bestreben könnte, im Augenblicke, wo alles seinen Platz in verwirrter Bewegung verwechselt. Kann man auch nur den Gedanken wagen, glücklich zu sein, wenn alles in Elend darniederliegt? Ich arbeite, wie Sie wohl denken können, aber doch ohne Lust und Liebe. Es ergreift mich zuweilen plötzlich eine Ängstlichkeit, eine Beklommenheit, die ich zwar aus allen Kräften zu unterdrücken mich bestrebe, die mich aber dennoch schon mehr als einmal in die lächerlichsten Situationen gesetzt hat.

Ohne Lust und Liebe … Stimmt ja nicht vollends! Wie ist es denn, wenn Sie schreiben? Von der Zeit der Arbeit an der »Penthesilea« etwa sind Euphorien bekannt! Schreiben ist doch: einziges Glück!
Ja, das Leben, das vor mir ganz öde liegt, gewinnt mit einemmal eine wunderbar herrliche Aussicht, und es regen sich Kräfte in mir, die ich ganz erstorben glaubte. Alsdann will ich meinem Herzen ganz und gar, wo es mich hinführt, folgen und schlechterdings auf nichts Rücksicht nehmen, als auf meine eigne innerliche Befriedigung.

Wilhelmine von Zenge, für zwei Jahre Ihre Verlobte, haben Sie einen Fragebogen geschickt.
Um auf eine leichte, angenehme Art den Scharfsinn in dem Auffinden des Ähnlichen zu prüfen.

Sie fragten sie, uns aber interessieren Ihre eigenen Antworten. Also: Was ist lieblich?
Ein Maitag.

Was ist furchtbar?
Ein herannahendes Gewitter; das Kräuseln der Wellen für den Seemann.

Was ist rührend?
Das Reden bei der Leiche; ein Sonnenuntergang; Unschuld und Einfalt; Fleiß und Dürftigkeit.

Was ist schrecklich?
Blitz und Donnerschlag in einem Augenblick; des Nachbarn Haus oder sogar die eigene Treppe in Flammen.

Was ist niederschlagend?
Regen am Morgen einer entworfnen Lustpartie; Kälte in der Antwort, wenn man herzlich und warm fragte; ein schlechtes Kleid, wenn die Gesellschaft es bemerkte; eine Grobheit, die uns aus Mißverständnis zugefügt wird.

Und was ist lächerlich?
Im Mondschein über den Schatten eines Laternenpfahls zu springen, in der Meinung, es sei ein Graben; die ersten Versuche eines Kindes zu gehen (aber auf weichem Grase); ein ungeschickter Landjunker, der aus Liebe tanzt.

Was ist Erwartung erregend?
Ein Pfeifen im Walde; ferne Kanonenschüsse im Kriege; das Klingeln zum Aufziehn des Vorhangs im Theater.

Was ist ….
Genug, genug, genug.

Wilhelmine von Zenge fragte Sie einmal, warum das Tier sich so schnell, der Mensch aber so langsam ausbilde?
Die Frage ist doch allerdings sehr interessant. Zur Antwort mögte überhaupt schon der allgemeine Grundsatz dienen, daß die Natur immer um so viel mehr Zeit braucht, ein Wesen zu bilden, je vollkommener es werden soll.

Vollkommenheit auch im Finden der Wahrheit?
Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblickten, seien grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, denn wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.

Wenn Wahrheit also zutiefst an unsere Subjektivität gebunden bleibt …
… so ist die Wahrheit, die wir sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich.

Ist es denn mit dem Glück einfacher als mit der Wahrheit?
Glücklich zu sein, das ist der erste unsrer Wünsche, der laut und lebendig aus jeder Ader und jeder Nerve unsres Wesens spricht.

Wovon hängt Glück ab?
Es hängt von keinen äußeren Verhältnissen ab, kein Tyrann kann es uns rauben, kein Bösewicht uns stören, wir tragen es mit in alle Weltteile umher.

Der soziale Umstand aber …
Wenn das Glück allein von äußeren Umständen abhinge ..

Soll ich Beispiele nennen?
Mein Freund, und wenn Sie da tausend Beispiele aufführten; was mit der Güte und der Weisheit Gottes streitet, kann nicht wahr sein. Der Gottheit liegen die Menschen alle gleich nahe am Herzen, nur der bei weitem kleinste Teil ist indes der vom Schicksal begünstigte.

Eben!
Für den größten Teil wären also Genüsse des Glücks auf immer verloren?
Sieht manchmal so aus.

Nein, mein Freund, so ungerecht kann Gott nicht sein.
Ist er aber.

Es muß ein Glück geben, das sich von äußeren Umständen trennen läßt, alle Menschen haben ja gleiche Ansprüche darauf. Lassen Sie uns das Glück nicht an äußere Umständen knüpfen; lassen Sie es uns lieber an die Tugend knüpfen. Das, was die Toren Glück nennen, ist kein Glück, es betäubt ihnen nur die Sehnsucht nach dem wahren Glück, es lehrt sie eigentlich nur, ihr Unglück zu vergessen. Folgen Sie dem Reichen und Geehrten nur in sein Kämmerlein, wenn er Orden und Band an sein Bette hängt und sich einmal als Mensch erblickt. Folgen Sie ihm nur in die Einsamkeit, das ist der Prüfstein des Glücks. Da werden Sie die Tränen über bleiche Wangen rollen sehen, da werden Sie Seufzer sich aus der bewegten Brust empor heben hören. Nein, nein, einzig allein nur die Tugend ist die Mutter des Glücks.

Was ist dem Menschen angemessener? Aufstieg oder Mäßigung?
Wie wenig beglückend der Standpunkt auf großen außerordentlichen Höhen ist, habe ich recht innig auf dem Brocken empfunden.

Etwas unpassend, der Vergleich.
Lächeln Sie nicht, es waltet ein gleiches Gesetz über die moralische wie über die physische Welt. Die Temperatur auf der Höhe des Thrones ist so rauh und der Natur des Menschen so wenig angemessen wie der Gipfel des Blockbergs. Mit weit mehrerem Vergnügen gedenke ich dagegen der Aussicht auf der mittleren und mäßigen Höhe des Regensteins. Die Luft war mäßig, nicht warm und nicht kalt, grade so wie sie nötig ist, um frei und leicht zu atmen.

Ein Lob der Mitte ist das.
Im Vorhofe des Olymp, erzählt Homer, stünden zwei große Behältnisse, das eine mit Genuß, das andere mit Entbehrung gefüllt. Wem die Götter, so spricht Homer, aus beiden Fässern mit gleichem Maße zumessen, der ist der Glücklichste; wem sie ungleich zumessen, der ist unglücklich, doch am unglücklichsten der, dem sie nur allein aus einem Fasse zumessen.

Also entbehren und genießen?
Das wäre die Regel des äußeren Glücks, und der Weg, gleich weit entfernt von Reichtum und Armut, von Überfluß und Mangel, von Schimmer und Dunkelheit, ist die beglückende Mittelstraße, die wir wandern wollen.

Was, Herr von Kleist, ist unerträglich?
Geschwätz für den Denker; Trostgründe für den Leidenden.

Das Interview »führte« Hans-Dieter Schütt


Zerrissen

Hölderlin hatte gleichsam den Auftrag der Götter in unwirtlicher Heimat. Kleist war in die Zeit geworfen und fühlte sich ortlos. Die Gestalten seiner Dramatik: herzhämmernde Verzweiflung, alles Positive löst sich in raschester Abfolge auf, kein Warten auf Sinn bringt Erlösung. Kleist, das ist der Abschied vom Deutschen Idealismus, längst bevor die allgemeine Kritik der Werte einsetzt.

Der Dichter, der sich nach Vaterland sehnte. Doch dem Wechsellicht der Zeit ist auch Kleists Umgebung unterworfen: die Jahre nach Frankreichs Revolution, die Kriege Preußens gegen Napoleon, die Niederlage der Deutschen bei Jena und Auerstedt. Kleist erlebte Widerstand, Sieg und Wiener Kongress nicht mehr. Sein Nationalgefühl loderte – deshalb wurde es im Nachhinein so krass missbenutzt: »In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!«

Kein Klassiker. Ein Romantiker auch nicht. Jedes Ordnen versagt, weil Kleist am schärfsten und zerrissen die Epoche selbst spiegelt. Die Epoche: hoffnungsvoll und auch leer. Übergang in den Aufbruch und Furcht vor der neuen Zeit. Kleist erfährt diese Beschleunigung am eignen Leibe. Aber auch: Momente unendlicher Versunkenheit, Selbstvergessenheit, Schübe traumvoller Ruhe, da Erfahrenes in unsterblicher Dichtung sich birgt. hds

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