Frieren durch Isolation

Menschlicher Körper kann Energieumsatz der Temperatur anpassen

  • Magnus Heier
  • Lesedauer: 3 Min.
Frauen frieren mehr als Männer, Europäer mehr als australische Ureinwohner – und einsame Menschen mehr als sozial Integrierte. Umgekehrt macht ein heißer Glühwein den Nachbarn sympathisch.
Der Autor beim Selbstversuch
Der Autor beim Selbstversuch

In einer Kältekammer können Patienten bei trockener Luft von minus 120 Grad minutenlang in Badehose sitzen. Hinterher sind sie schmerzfrei, denn Kälte kann auch heilen. Die Kältekammer scheint ein uraltes Dogma zum Einsturz zu bringen: Seit Generationen wärmen sich Sportler vor einem Wettkampf auf. Es könnte sein, dass das genaue Gegenteil richtig ist – zumindest bei Ausdauersportarten. Bei Sportlern, die sich zweieinhalb Minuten in einer Kältekammer aufhielten, wurde eine Leistungssteigerung von bis zu zehn Prozent beobachtet.

Wann wir frieren, unterscheidet sich nicht nur zwischen Frau und Mann oder Dicken und Dünnen. Das hat anatomische Gründe: Frauen (und Dicke) haben im Durchschnitt eine dickere Fettschicht und ein günstigeres Verhältnis zwischen Körpervolumen und Körperoberfläche. Die optimale Form, die am wenigsten auskühlt, wäre eine Kugel. Je mehr sich etwa ein großer, schlanker Mensch von dieser Form entfernt, desto mehr wird er frieren. Männer haben den Vorteil einer großen Muskelmasse, die auch im Ruhezustand schon Wärme produziert. Dieser Punkt ist wohl der entscheidende dafür, dass Männer weniger frieren.

Die Fähigkeit, Kälte zu ertragen, lässt sich auch trainieren. Tief im Gehirn, im sogenannten Hypothalamus, liegt ein körpereigenes Thermostat, das nicht größer ist als ein Fisherman's Friend. Es misst nicht nur die Körpertemperatur, sondern entscheidet auch, ab wann der Körper auf Abweichungen von seiner optimalen Temperatur reagiert. Der Bereich, in dem der Mensch sich wohl fühlt und weder schwitzt noch friert, ist sehr eng. Diese Wohlfühlzone beträgt weniger als ein Grad: Sobald die Kerntemperatur des Körpers den Sollwert von 37 Grad um ein halbes Grad unterschreitet, friert der Mensch. Wird sie um mehr als ein halbes Grad überschritten, fängt er an zu schwitzen. Dabei ist gar nicht klar, warum der menschliche Körper sich ausgerechnet an 37 Grad orientiert. Andere gleichwarme Säugetiere haben eine ganz andere optimale Temperatur: Die Fledermaus hält konstante 31, ein Wal immerhin 36,5 und das Rotkehlchen sogar 44,6 Grad.

Trotzdem zahlt der Körper, um seine 37 Grad zu halten, einen sehr hohen Preis – gemessen in Energie zum Heizen und Wasser zum Schwitzen. Aber dieser Sollwert ist nicht bei allen Menschen gleich. Er kann sich sogar innerhalb des Lebens verändern. »Man kann Menschen in der Klimakammer beobachten und dabei ihre persönliche Zwischenschwellenzone ermitteln«, sagt Joachim Roth von der Veterinärmedizin der Universität Gießen. Dazu werden die Kerntemperatur in der Speiseröhre und die Hauttemperatur gemessen, der Sauerstoffverbrauch und die Aktivität der Schweißdrüsen, die Hautdurchblutung und das Muskelzittern. »Dabei kann man feststellen, dass sich diese Werte individuell sehr unterscheiden«, sagt Roth. Aborigines aus Australien haben eine um mehrere Grad nach unten ausgeweitete Toleranzzone. Sie zittern bei nächtlicher Kälte erst sehr viel später als ein durchschnittlicher Mitteleuropäer. Alacaluf-Indianer aus Westpatagonien dagegen haben einen um 25 bis 50 Prozent gesteigerten Energiegrundumsatz, sagt Roth. In Industrieländern kommt der Körper durch optimale Kleidung und temperierte Unterkunft gar nicht in den Kältebereich, in dem er sich anpassen müsste.

Aber auch wenn es warm ist, kann man frieren – vorausgesetzt, man fühlt sich einsam und isoliert. In einem Experiment sollte sich die eine Hälfte der Teilnehmer eine Situation vor Augen führen, in der sie sich ganz besonders ausgegrenzt fühlte. Die anderen sollten sich an Momente erinnern, in denen sie integriert und geborgen waren. Anschließend sollten die Teilnehmer die Raumtemperatur schätzen. Die »Geborgenen« empfanden den Raum als wärmer, die »Einsamen« als kalt. Frieren ist offensichtlich mehr als nur die einfache Reaktion auf eine objektiv kühle Umgebung.

Aber es geht auch umgekehrt: Halten Probanden einen heißen Kaffee in der Hand, finden sie ihr Gegenüber sympathischer als mit leeren, kalten Händen. Ein starkes Argument für einen gemeinsamen winterlichen Glühwein.

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