nd-aktuell.de / 12.01.2011 / Kultur / Seite 13

Ein dunkler, hypnotischer Strudel

Vijay Iyer, einer der interessantesten Jazz-Musiker der Gegenwart, entlockt dem Klavier neue Klänge

Andreas Kötter
Ein dunkler, hypnotischer Strudel

Herr Monk, wie sehen Sie das mit den 88 Tasten, sind es zu wenig oder zu viel?« – »Schwer genug, diese 88 zu spielen.« So lautete einer der vielen absurden Wortwechsel zwischen dem überragenden und oftmals mysteriösen Jazz-Pianisten Thelonious Monk und einem Journalisten. Das Problem einer Musikform, für die musikalische Innovation als unentrinnbares Wesensmerkmal gleichzeitig Segen und Fluch ist, wird hier treffend auf den Punkt gebracht. Von vielen schon auf überzeugende Weise bearbeitet, steht das Material in seiner Begrenztheit jedem Versuch spöttisch gegenüber, ihm etwas Neues zu entlocken. Das wird zur besonderen Herausforderung, wenn man sich auf das Klavier beschränkt, statt mit verschiedenen Besetzungen, Klängen und Verzerrungen zu arbeiten.

Der indisch-stämmige US-Amerikaner Vijay Iyer, einer der interessantesten Jazz-Musiker der Gegenwart, hat sich dieser Herausforderung gestellt. Neues ist durchaus zu hören auf seiner außergewöhnlichen Veröffentlichung »Solo«. Darüber hinaus bietet auch die Künstlerpersönlichkeit des 39-Jährigen eine grundlegende Renovierung des gesamten Jazz-Diskurses an: Als Kind indischer Einwanderer steht der New Yorker Musiker außerhalb der Frontlinien von weiß gegen schwarz oder europäisch gegen amerikanisch. Wenn Vijay Iyer sich dennoch auf Duke Ellington, Thelonious Monk, Cecil Taylor oder auch Randy Weston bezieht, ist dies ein klares Bekenntnis zum afro-amerikanischen Kern dieser Musik aus innermusikalischen Gründen.

Umso überraschender ist Iyers Abkehr vom Swing, dem rhythmischen Schlüsselphänomen des Jazz. Oftmals als genuin schwarzes (nicht übertragbares, erlernbares) Gefühl bezeichnet, ist es der Swing, der den Jazz zum natürlichen Eigentum der Afro-Amerikaner gemacht hat. Nicht umsonst galt Duke Ellingtons »It Don't Mean A Thing If It Ain't Got That Swing« seit 1932 als Hymne des Jazz. Musikalische Konsequenz dieses raffiniert rhythmischen, kaum transkribierbaren »Schwingens« ist die unbedingte Einhaltung der Taktfolge, welche den harmonischen Wechseln entspricht.

Improvisationen über Ellington, Monk oder den Jazz-Standard »Darn that Dream« bieten Vijay Iyer Gelegenheit, seine Souveränität im klassischen Jazzspiel vorzuführen. Eingerahmt davon sind seine eigenen Kompositionen, in denen sich der Verzicht auf das Swingen als musikalischer Befreiungsschlag erweist. Statt nämlich über harmonischen Progressionen zu improvisieren, etabliert Iyer kleinere Tonfolgen als Motive, bevor sie – zeitlich zueinander verrückt – in überraschend neue Wechselwirkungen treten: Als würde man verschieden lange Filmrollen als Loops mit derselben Geschwindigkeit übereinander ablaufen lassen, entstehen so permanent neue Bilder. Aus kühl und mit architektonischer Präzision geplanten Verschiebungen dieser vertikalen Linien entwickelt Iyer beeindruckende Klang-Effekte – und neue Möglichkeiten der Improvisation.

So beginnt das Album »Solo« mit einer faszinierenden Interpretation des Michael-Jackson-Hits »Human Nature«, die die wesentlichen Momente von Iyers Spiel bereits beinhaltet. Mit der linken Hand wird in endloser Wiederholung eine Tonfolge wie ein Rock-Riff eingesetzt, über dem sich die populäre Melodie entfaltet. Doch bevor es zur klebrigen Süße mancher Brad-Mehldau-Aufnahmen kommen kann, wird hier – statt die Melodie weiterzuspinnen – das Fundament, also der als unveränderbar erscheinende begleitende Riff, systematisch demontiert: ein dunkler, hypnotischer Strudel entsteht, dem nun als klingender Dampf in permanent neuen Formen wieder Melodien entsteigen.

Es ist die Kunst, mit der Etablierung von sonoren Mustern bewusst Erwartungshaltungen bei den Hörern zu schaffen, die es Iyer erlaubt, diese dann umso überraschender in andere tönende Landschaften zu entführen. Komplexe Systeme – aber Iyer scheint jederzeit zu wissen, wo sich der mitdenkende Hörer befindet, um ihn ein ums andere Mal zu überraschen. Eine Transparenz, die ihn von avantgardistischen Kollegen wie Alexander von Schlippenbach oder Satoko Fujii unterscheidet – und interessant auch für ein breiteres Publikum machen könnte.

Das klare Bekenntnis dazu, Geschichten zu erzählen und nicht nur Musik für Musiker zu machen, macht Iyers Aufnahmen zu einem wirklichen Hörvergnügen. »Es geht ja nicht nur um Melodien und Akkorde«, sagt er, »es geht darum, die Zuhörer durch eine musikalische Erfahrung zu führen, einen Rahmen zu schaffen, der der Vielfältigkeit verpflichtet bleibt – damit nicht alles gleich klingt«. Iyer, der sich nicht scheut, gelebte Musikerfahrungen aus Rock, Soul und Pop einzubeziehen, klingt nie gleich. Der Forderung des Jazz, Ausdruck der Einzigartigkeit jedes Individuums zu sein, wird er allemal gerecht.

So radikal, wie Iyer seinen eigenen Ausdruck sucht, so entspannt gestaltet sich sein Verhältnis zur politischen Implikation des Jazz. Die Frage, ob der Jazz politisch ist durch seine afro-amerikanische Herkunft, die ihn in Opposition zur klassischen weißen Kunstformen entstehen ließ, oder durch die offene Form, die unabhängig von der Herkunft jedem erlernbar ist, beantwortet Iyer folgerichtig mit einem Sowohl-als-auch: »Da ist diese Blues-Erfahrung der Schwarzen in Amerika: Der Jazz hat die Geschichte dieser Menschen in sich – eine Sensibilität, die aus dieser Geschichte erwachsen ist. Ein Gefühl des Verlorenseins vielleicht, das zur Improvisation führt, so wie Identitäten improvisiert wurden … Und dieses Gefühl erleben wir als erste Generation indischer Amerikaner möglicherweise ähnlich.«

Ein Ritterschlag ist für Vijay Iyer deshalb die wiederholte Zusammenarbeit mit Amiri Baraka, einem der geistigen Köpfe der radikalen schwarzen Widerstandsbewegung, von dem er mehrmals zu künstlerischen Kooperationen eingeladen wurde: »Er ist ein unruhiger Intelektueller im besten Sinne. Er hat die Seele eines Poeten, aber ist in seinem Kampf für soziale Gerechtigkeit gleichzeitig sehr bodenständig. Natürlich ist er im Marxismus verankert. Für mich eröffneten die Gespräche mit ihm ein neues Gefühl für den Zusammenhang von Kunst und politischem Aktivismus.« Ein Aktivismus, der sich vor allem auch in den politischen Alben widerspiegelt, die Iyer mit dem HipHop-Künstler Mike Ladd oder auch mit Rudresh Mahanthappa aufgenommen hat.

Wird Vijay Iyer zum Gesicht des Jazz im 21. Jahrhundert? »Ach, ich werde seit zehn oder 15 Jahren als ›aufsteigend‹ bezeichnet«, versucht Iyer den gegenwärtigen Hype um ihn lachend zu erden. Dass es um viel mehr geht, beweist seine ein wenig bitterere Reflexion über die Situation des Jazz in den USA: »Vor dreißig Jahren gab es noch mehr Möglichkeiten, mehr Orte, wo gespielt wurde. Heute ist die Jazz-Szene in Amerika eingegangen. Alle Alten, mit denen ich gearbeitet habe, sehen das so. Musik entwickelt sich so, wie sich die Musikindustrie entwickelt. Von Kunst wird erwartet, dass sie Profit abwirft.«

Gemeinsam mit dem Münchner Label Act, für das »Solo« seine zweite Einspielung ist, hofft Vijay Iyer, mehr Aufmerksamkeit für diese Musikform zu wecken. Nicht nur, um zu wissen, wohin sich der Jazz entwickeln könnte, sollte man Vijay Iyer auf den 88 Tasten spielen hören –, sondern einfach, weil es ein großes Vergnügen ist.