Die Brücke der Töne

Wiedergelesen: »Wenn ich kein Vogel wär« – Rita Kuczynski erzählt von ihrer Kindheit

  • Erik Baron
  • Lesedauer: 4 Min.

Rita Kuczynski, Jahrgang 1944, wuchs im geteilten Nachkriegs-Berlin auf. Der Riss ging quer durch die Familie, ein Riß, der 1961 durch die Mauer manifestiert wurde. Einen Großteil der Zeit verbrachte sie bei der Großmutter in Westberlin, ging dort zur Musikschule, wurde westsozialisiert, während ihre Eltern im Osten Berlin lebten. Sie pendelte zwischen den Welten, bis sie an einem Wochenende im August 1961, an dem sie ihre Eltern besuchte, buchstäblich eingemauert wurde. Hätte sie die Wahl gehabt, wäre sie, natürlich, bei ihrer Oma im Westen geblieben. Doch der Zufall der Geschichte machte ihr, wie so vielen Menschen, einen Strich durch die Lebensplanung. Sie studierte später Philosophie, promovierte an der Akademie der Wissenschaften der DDR über Hegel und heiratete in eine der privilegiertesten Familien der DDR ein.

»Wenn ich kein Vogel wär« – der Roman ihrer Kindheit – ist 1990, noch zu DDR-Zeiten, veröffentlicht worden. Die Ich-Erzählerin Susanne Wünsche, Suschen genannt, ist ein hochbegabtes und sensibles Wesen. Sie wächst nach dem Krieg bei ihrer Westoma auf, einer prominenten Opern-Sängerin, die auch das musische Talent von Suschen entdeckt und fördert. In Westberlin besucht sie die Musikschule, während sie in Ostberlin zur Nomalschule geht. Der Ost-West-Konflikt, der Anfang der fünfziger Jahre eskaliert, macht auch vor der kindlichen Seele keinen Halt. Doch Suschen ist in ihrer Naivität aufgeschlossen genug, diese politische Schizophrenie offen auszutragen und hat in ihrer Westoma einen verständnisvollen und vertrauenswürdigen Menschen an ihrer Seite, der es versteht, Unheil von der Kinderseele fernzuhalten, ein Unheil, das vor allem von Suschens Vater droht. Der tauchte eines Tages als Kriegsheimkehrer zu Hause auf, stellte sich als ihr Vater vor und begann fortan seine Familie zu tyrannisieren.

Suschen findet Halt bei ihrer Westoma und ihrem Klavierspiel, mit dem sie sich selbst die Brücke zwischen Ost und West baut. Die Musik bildet in Kuczynskis Roman das übergreifende Mittel, mit dem das junge Mädchen die politische Schizophrenie zwischen Ost und West überwand. Die Musik ist Suschens Welt, in ihr kann sie aufgehen, durch sie findet sie zu sich selbst, mit ihr weitet sich ihre Seele. Wenn sie Klavier spielt, wandelt sie zwischen den Tönen, macht sie zu ihren Seelenschwestern. Suschen ist ein dauernder Quell poetischer Fantasie. Die Poesie sprudelt aus ihr heraus, ohne dass sie es als Poesie begreift – das macht sie so authentisch.

Rita Kuczynski zieht den Leser mit ihrer Erzählweise hinein in die Seelen- und Gedankenwelt der kleinen Susanne. Sie komponiert den Roman wie eine Sinfonie, bestehend aus vielen kurzen Sätzen. Sie passt sich mit ihrem Erzählrhythmus der Seelenwelt ihrer Ich-Erzählerin an. Sanfte Streicher gleiten übers Papier, wenn Suschen zu träumen beginnt, wenn sie sich ihrem Tagebuch anvertraut und sich in Gedichten versucht. Sobald der schlagende Vater ins Spiel kommt, zieht der Rhythmus an, die Worte und Sätze werden hektischer.

Ohne ihre Musik, ohne ihre Fantasie wäre Suschens Seele an den Schlägen des Vaters verhärtet. Immer wenn Gefahr von ihm droht, taucht sie tief ab in sich selbst, verwandelt das Geschrei des Vaters in rhythmische Töne und sucht sich in Gedanken das passende Klavierstück, das dem Tempo seines Gebrülls entspricht. So entkommt sie seiner »Erziehung«.

Doch eines Tages wurde Suschen endgültig der Kontakt zur Westoma verboten. Eine elterliche Entscheidung, die sie vor Verzweiflung auf die schiefe Bahn bringt: die Zehnjährige beginnt zu stehlen, in der Hoffnung, ins Gefängnis zu kommen. Denn unter keinen Umständen will sie dauerhaft nach Hause. Im Gefängnis, so glaubt sie, findet sie die Stille, die sie braucht, um ihrer Töne habhaft zu werden. Zu Hause würden die Töne durch ihren Vater nur zerschrieen werden. Doch Gott sei dank gerät Susanne an eine verständnisvolle Mitarbeiterin des Jugendamtes…

Rita Kuczynski hat mit ihrem autobiografisch gefärbten Roman die herzzerreißende Geschichte ihrer eigenen Kindheit gespiegelt, einer Kindheit, die zwischen den Systemen aufgerieben wird. Es ist der naive Blick eines jungen Mädchens auf die Gesellschaft, der die Systemspaltung ad absurdum führt. Während Helga M. Novak in der DDR zum »Vogel federlos« wurde, wuchsen der zehn Jahre jüngeren Rita Kuczynski übersinnliche Flügel, mit denen sie die Ost-West-Spaltung wie ein Vogel federleicht überwand.

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