Streitfrage: Studentenrekord – Wie gut sind die Hochschulen gerüstet?

Streitfrage: Studentenrekord – Wie gut sind die Hochschulen gerüstet?

  • Lesedauer: 6 Min.
Der Ansturm auf die Hochschulen ist größer als von Bund und Ländern gedacht. Mit 441 800 Studienanfängern oder 46 Prozent des Jahrgangs haben sich 2010 so viele junge Menschen wie nie für ein Studium entschieden. In den Jahren zuvor waren es stets nur um die 37 Prozent. Für Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) ist das ein Erfolg des Hochschulpakts, eines Sonderprogramms von Bund und Ländern zur Erhöhung der Studienquote. Für die nächsten fünf Jahre gehen sie von bis zu 275 000 zusätzlichen Studienanfängern im Vergleich zu 2005 aus. Ob das reicht, daran gibt es Zweifel. Schon jetzt ist klar, dass es nach dem überraschenden Aus für die Wehrpflicht weitere zehntausende Studienanfänger werden könnten, die in schon volle Hörsäle und Seminarräume drängen. Schavan sieht die Hochschulen auch für diesen Fall gut gewappnet und verspricht mehr Geld. Alles super also, dank Hochschulpakt?

Die Erfolgsmeldung ist ein Alarmsignal

Von Andreas Keller

Schon einmal sollte ein »Studentenberg untertunnelt« werden. Mit ihrem »Öffnungsbeschluss« von 1977 erklärten die Ministerpräsidenten der damaligen Bundesrepublik den drastischen Anstieg der Studierendenzahlen zu einem demografischen Übergangsproblem. Bekanntlich kam es anders: Dem Gipfel folgte ein Hochplateau. Statistisch gesehen teilen sich seitdem zwei Studierende einen Studienplatz.

Dreißig Jahre später hat sich eine noch dramatischere Konstellation zusammengebraut: Die geburtenstarken Jahrgänge der neunziger Jahre strömen an die Hochschulen, außerdem wirkt sich die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur auf zwölf Jahre aus. Unerwartet sorgt die Aussetzung der Wehrpflicht 2011 für bis zu 70 000 weitere Studienanfänger.

Mit dem »Hochschulpakt 2020« versuchen Bund und Länder gegenzusteuern: Von 2007 bis 2010 sollten 90 000, 2011 bis 2015 dann sogar 275 000 zusätzliche Studienanfängerplätze eingerichtet werden. Vergangene Woche verkündete die Bundesbildungministerin stolz, bis 2010 hätten sogar doppelt so viele Studierende als erwartet ein Studium aufgenommen.

Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich Schavans Erfolgsmeldung als Alarmsignal. Wenn doppelt so viele Studienberechtigte als erwartet an die Hochschulen strömen, zeigt das: Die Nachfrage nach Studienplätzen ist deutlich größer, als sie von Bund und Ländern kalkuliert wurde. Und das, obwohl viele Bewerberinnen und Bewerber leer ausgingen, weil sie am Numerus Clausus scheiterten oder im Zulassungschaos strandeten. Das heißt dann aber auch: Wenn die Länder heute schon die Mittel aus dem Hochschulpakt abrufen, die morgen benötigt werden, ist der Topf schon bald leer. Den Ruf nach zusätzlichen Paktmitteln für die jungen Männer, die in Folge der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 zusätzlich studieren wollen, beantwortete die Ministerin mit genau dieser Logik: Gebt erst einmal so viel Geld aus, wie ihr braucht, am Ende überlegen wir, ob es einen Nachschlag gibt.

Diese Strategie des Aussitzens ist genau das falsche Signal: an die vielen jungen Menschen, die heute überlegen, ob sie morgen ein Studium aufnehmen. Zweifel am Bachelor, Studiengebühren, volle Hörsäle – viele Studienberechtigte überlegen sich schon heute gründlich, ob sie sich auf das Wagnis Hochschule einlassen sollen. Wer jetzt Unsicherheit schürt, ob auch noch 2014 oder 2015 Mittel für Studienplätze bereitstehen, erstickt das Interesse am Hochschulstudium zusätzlich.

Dabei war von Anfang an absehbar, dass der Hochschulpakt unterfinanziert ist. Nicht nur weil die tatsächlichen Kosten eines Studienplatzes nach Angaben des Statistischen Bundesamts deutlich über den kalkulierten 26 000 Euro liegen. Sondern vor allem wegen des enormen Nachholbedarfs Deutschlands in der Bildungsbeteiligung. Während in den in der OECD zusammengeschlossenen Industrieländern im Durchschnitt 56 Prozent eines Altersjahrgangs ein Hochschulstudium aufnehmen, waren es in Deutschland 2009 gerade einmal 37 Prozent (Angaben der OECD). Auf die von der Bundesregierung reklamierten 40 Prozent kommt man nur dann, wenn man auch die Studierenden mitzählt, die ihre Hochschulzugangsberechtigung im Ausland erworben haben. Um die Ausbildungsleistungen der nationalen Bildungssysteme vergleichen zu können, rechnet die OECD diese Gruppe heraus.

Dem internationalen Trend, wonach das Hochschulstudium mehr und mehr zur Regelausbildung für eine wachsende Mehrheit junger Menschen wird, kann sich auch Deutschland nicht länger verschließen. Wir brauchen daher nicht nur deutlich mehr Studienplätze, sondern vor allem einen nachhaltigen Ausbau der Hochschulen, der weit über 2015 hinaus wirkt. Es macht keinen Sinn, jetzt Dozentinnen und Dozenten einzustellen, um sie nach dem Hire-and-Fire-Prinzip nach wenigen Jahren wieder auf die Straße zu setzen. Der Hochschulpakt greift zu kurz, wenn er nach kurzer Zeit wie ein Strohfeuer erlischt.

Das ist schon lange absehbar – bei den für den Hochschulpakt verantwortlichen Regierungen scheint diese Einsicht noch nicht angekommen zu sein. Geschichte wiederholt sich – doch! Bund und Länder wiederholen den Fehler aus den siebziger und achtziger Jahren und setzen darauf, dass dem »Studentenberg«, einmal erklommen, eine Talfahrt folgt. Und wieder werden sie vergeblich auf Licht am Ende des Tunnels unter dem Studentenberg warten.


Hochschulpakt schafft Bildungschancen

Von Ernst Dieter Rossmann

Deutschland braucht eine höhere Studienanfängerquote. Insbesondere die Fachhochschulen müssen ausgebaut werden. Und für die technisch-orientierten Fächer muss es wieder mehr Interesse geben. Soweit der ökonomische, demographische und bildungspolitische Konsens in Deutschland.

Wer wollte sich über die positive Bilanz zum Hochschulpakt I deshalb nicht freuen. Genau diese Entwicklung hatten wir in der rot-grünen und dann auch in der schwarz-roten Koalition vor Augen, als dieses Sonderprogramm zur Hochschulfinanzierung angeschoben worden ist. Denn gute Zukunftsperspektiven durch ein Studium für mehr Menschen und gute und nachhaltige Wertschöpfung durch ein gesichertes Fundament an Fachkräften sind das Ziel. Soweit so gut. Nur kann es dabei nicht stehenbleiben.

1.) Die deutliche Übererfüllung des Hochschulpaktes I stellt die Frage, wie sicher die Prognosen sind, auf denen der Hochschulpakt II bis 2015 mit geplanten weiteren 275 000 zusätzlichen Studienanfängerplätzen gründet. Unsere Einschätzung ist: Das wird nicht reichen, schon wegen der zusätzlichen Nachfrage durch ca. 60 000 junge Menschen, die nach Aussetzung von Wehrpflicht und Zivildienst Mitte 2011 an die Hochschulen streben werden. Die Prognosen müssen schnell überprüft und es muss sichergestellt werden, dass ausreichende Mittel zur Verfügung stehen. Und zwar für die Bachelor- und die Master-Studienplätze. Bund und Länder haben für beides eine gemeinsame Verantwortung.

2.) Ausreichende Mittel heißt an erster Stelle, dass der Ausgabendeckel von 3,2 Milliarden bis 2015 aufgehoben werden muss, den sich der Bund für den Hochschulpakt II auferlegt hat. Denn man darf nicht vergessen, dass ein Teil des zusätzlichen Bedarfs an Studienanfängerplätzen durch die Aussetzung der Wehrpflicht auf eine politische Entscheidung des Bundes zurückzuführen ist. Diese sollten zunächst überwiegend vom Bund finanziert werden.

3.) Bereits jetzt ist klar, dass die von 22 000 Euro im Hochschulpakt I auf 26 000 Euro im Hochschulpakt II aufgestockten Bund-Länder-Mittel pro Studienplatz über vier Jahre für gute Studienverhältnisse an den Hochschulen nicht ausreichen. Denn die Hochschulen sind strukturell unterfinanziert. Und wachsende Studienanfängerzahlen verschärfen dieses Problem. Hinzu kommt: 25 Prozent Studienabbrecherquote sind entschieden zu hoch und verlangen nach einer wirklichen Studienreform, nach deutlicher Verbesserung der Lehre und Beratung sowie ausreichender sozialer Absicherung, vom BAföG bis zur Studentenwohnung.

4.) Zwingend notwendig ist vor allen Dingen eine nachhaltige Personalentwicklung. Wir brauchen mehr Personal an den Hochschulen. Das Wissenschaftszentrum Berlin kommt bis 2025 auf einen Bedarf von 16 000 bis 23 000 zusätzlichen Professoren und über 15 000 wissenschaftlichen Mitarbeitern. Über 35 Prozent mehr Lehrbeauftragte in den letzten Jahren mit Zeitverträgen und schmalen Honoraren waren der falsche Weg. Der »Studienpakt für Gute Lehre« der Bundesregierung mit maximal 200 Millionen Euro zusätzlich pro Jahr ist deutlich zu kurz gesprungen. Der Wissenschaftsrat hatte nicht ohne Grund 1,1 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich für die Gute Lehre eingefordert.

5.) Bund und Länder haben auch die Verantwortung für einen strukturellen Ausgleich zwischen Ost- und Westdeutschland. Wenn in Sachsen als einzigem Bundesland die Zahl der Studienanfänger seit 2005 real um ein Prozent gesunken und dieses jetzt auch im Vergleich von 2009 zu 2010 alle anderen neuen Bundesländer erreicht hat, so darf das niemanden ruhen lassen. Da ist auch der Zuwachs in Berlin mit 37 Prozent seit 2005 kein Trost. »Go east« ist eine wohlfeile Parole, die auch vom Hochschulmarketing verbreitet werden muss. Beste Lehre, mehr Exzellenz, mehr Forschung und mehr Vernetzung mit der Wirtschaft sind die strukturellen Verbesserungen, die für den Osten aufgebaut werden müssen, damit die dortigen überschießenden freien Studienkapazitäten jetzt wirklich genutzt werden. Auch hier ist die Bundesregierung in der Pflicht.

Das Fazit also: Mehr Studienanfänger sind gut, aber wirklich besser wird es nur, wenn gute Lehre und gutes Studium für alle, mehr Personal, sichere Arbeitsverträge und faire Bezahlung zwingend dazu kommen. Das ist die Aufgabe der Zukunft, wenn aus einem bemerkenswerten ersten Kapitel Hochschulpakt I tatsächlich eine Erfolgsstory im Ganzen werden soll.

Andreas Keller, geboren 1965, ist promovierter Politikwissenschaftler und für Hochschule und Forschung verantwortliches Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
Andreas Keller, geboren 1965, ist promovierter Politikwissenschaftler und für Hochschule und Forschung verantwortliches Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
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