Der »Jugendberg« und die Nöte Pakistans

Die Menschenrechtsanwältin Hina Jilani berichtet über die jüngsten Entwicklungen in ihrem Land

  • Lesedauer: 4 Min.
Hina Jilani (57 Jahre) aus Lahore ist Sonderbeauftragte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für die Lage der Menschenrechte und Anwältin am Obersten Gerichtshof Pakistans. Sie gründete 1980 Pakistans erste Anwaltskanzlei für Frauenrechte. Überdies ist sie Mitbegründerin der Kommission für Menschenrechte in Pakistan. In Berlin sprach Martin Lejeune mit ihr.
Der »Jugendberg« und die Nöte Pakistans

ND: Frau Jilani, auch in Pakistan stehen Selbstmordattentate auf der Tagesordnung. Kürzlich war es ein Jugendlicher in Schuluniform, der in der nordwestpakistanischen Stadt Mardan mindestens 27 Menschen getötet hat.
Jilani: Zunächst einmal bin ich menschlich tief erschüttert über diese Tat. Die kleine Garnisonsstadt Mardan liegt unweit der unruhigen Stammesgebiete nahe der Grenze zu Afghanistan, die als Bastion pakistanischer und afghanischer Islamistengruppen sowie als Hauptrückzugsort von Al Qaida gelten. Daher ist wohl von einem islamistischen Hintergrund auszugehen. Der Terrorismus ist wahrlich ein großes Problem für unser Land. In rund dreieinhalb Jahren wurden in Pakistan mehr als 4000 Menschen bei Anschlägen getötet.

Handelte es sich diesmal nicht eher um die Verzweiflungstat eines arbeitslosen jungen Mannes?
Sie spielen auf die jüngsten Selbstverbrennungen in der arabischen Welt an. Tatsächlich gibt es in unserem von Armut und Unterentwicklung gezeichneten Land eine Perspektivlosigkeit der Jugend. Um ihnen die Ausmaße zu verdeutlichen: Fast 40 Prozent der rund 150 Millionen Pakistaner sind jüner als 14 Jahre. Die Arbeitslosenrate beträgt schätzungsweise 20 Prozent. Der Begriff »youth bulge« (»Jugendberg«), der einen hohen Anteil Jugendlicher an der Bevölkerung eines Landes bezeichnet, trifft gerade auf Pakistan zu. Das Problem gilt als ein Schlüsselfaktor für den Ausbruch von Kriegen und bewaffneten Konflikten, auch als eine Ursache für Terrorismus.

Der Terrorismus ist offiziell auch der Grund, weshalb die pakistanische und die US-amerikanische Regierung kooperieren.
Ja, weil beide Länder gleichermaßen unter dem Phänomen des Terrorismus leiden.

Ist es also richtig, dass Ihr Land von den USA unterstützt wird?
Es ist nicht notwendigerweise richtig. Militärische Hilfen dieses Ausmaßes sind in meinen Augen nicht unbedingt korrekt. Ich glaube, dass diese Kooperation in vielen Aspekten ein Grund zur Beunruhigung für unser Land ist. Militärhilfe löst nicht die wirtschaftlichen und sozialen Probleme Pakistans. Aber der Terrorismus betrifft das Leben aller Pakistaner, auch das der armen Bevölkerung und der Minderheiten.

Die Armut und der Terrorismus sind leider nicht die einzigen Geißeln Pakistans. Auch Naturkatastrophen erschüttern Ihr Land immer wieder.
Es fehlt uns an allem. Pakistan braucht auch vier Monate nach Beginn der letzten großen Überschwemmungen – große Regionen des Landes stehen noch immer unter Wasser – dringend internationale Hilfe. In Sindh etwa leben noch immer eine halbe Million Menschen in provisorischen Unterkünften. Um die Nothilfe sicherstellen zu können, bittet die UNO die internationale Gemeinschaft um zwei Milliarden Dollar. Der Hilfsbedarf Pakistans ist damit größer als der Haitis, aber die Hilfsversprechen werden nur schleppend eingelöst. Die UNO-Mitgliedstaaten haben bisher knapp eine Milliarde Dollar zugesagt, von denen das meiste noch nicht angekommen ist. Übrigens hat Pakistans Erzfeind Indien 25 Millionen Dollar für die Opfer der Überschwemmungen gespendet. Das war für unser Land ein wichtiges Zeichen der Solidarität.

Auch die Hilfsorganisation Oxfam warnte Ende Januar in Berlin vor einer Verschärfung der humanitären Krise in Pakistan.
Die Flutkatastrophe bringt viele Probleme mit sich, die nur für eine kurze Zeit die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit bekamen. Dieses Wiederwegschauen nach nur ein paar Tagen, in denen verstörende Bilder aus den betroffenen Gegenden im Fernsehen liefen, ist unentschuldbar. Infektionskrankheiten und Hunger könnten die Situation der immerhin mehr als 20 Millionen Überschwemmungsopfer noch deutlich verschlechtern. Zudem droht die Gefahr einer Hungersnot, weil die Flut große Teile der Ernte vernichtet hat und viele Bauern in der Folge ihre Wintersaat nicht ausbringen konnten. Daher ist es problematisch, dass die pakistanische Regierung die Nothilfephase zum 31. Januar offiziell beendet hat. Die Hilfsprogramme müssen auf jeden Fall so lange fortgesetzt werden, bis die Grundbedürfnisse der Menschen dauerhaft gesichert sind. Und so lange sollten auch die Weltmedien die Flutkatastrophe nicht aus den Augen verlieren.

Momentan sind eher die Morde an zwei Pakistanern durch den US-Amerikaner Raymond Davis ein Thema in den Medien. Die USA-Regierung hat sämtliche hochrangigen Kontakte mit Pakistan unterbrochen, um seine Freilassung zu erzwingen. Hauptstreitpunkt ist, ob Davis ein Recht auf diplomatische Immunität hat.
Die Morde geschahen in meiner Heimatstadt Lahore. Das Recht, das diplomatische und konsularische Beziehungen regelt, legt eindeutig fest, wann ein Mensch Immunität genießt. Bevor ein Diplomat in ein Land einreist, muss dem Zielland dessen diplomatischer Status mitgeteilt werden. Sollte dies im Falle Davis passiert sein, müsste Pakistan das akzeptieren. Wenn nicht, haben die USA kein Recht sich zu beschweren. Ein Land kann doch nicht im Nachhinein für eine Person diesen Status reklamieren.

Das pakistanische Kabinett hat am vergangenen Mittwoch seinen Rücktritt eingereicht, um eine Regierungsumbildung zu ermöglichen.
Der Ministerpräsident meint, mit einem kleineren Kabinett die wirtschaftlichen Probleme des Landes besser angehen zu können. Doch um die strukturelle Unterentwicklung zu bekämpfen, sind ganz andere Maßnahmen erforderlich. Da muss sich auch die Politik internationaler Institutionen wie des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank ändern.

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