Seelenwüsten

Carlos María Domínguez blickt aus Uruguay nach Argentinien

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.
Blinde Küste: Ein Unwetter macht, dass der fünfzigjährige Arturo Balz und die junge Tramperin Camboya auf ihrem Weg zum Auto durch Gischt waten und bald die Hand nicht mehr vor Augen sehen, dass sie einander verlieren, keiner dem anderen mehr helfen kann. Aber die Blindheit, das wissen wir in diesem Moment schon, ist für beide schon längst ein Seelenproblem. Was um sie herum geschah und geschieht, sie können es nicht deuten. Höchstens der jungen Frau scheinen langsam einige Ahnungen auf. Und der Leser? Er tappt auch immer mal wieder wie blind in der Geschichte herum und muss begreifen: Das liegt an des Autors Erzählstrategie. Auf ganz leisen Sohlen schleicht sich das Ungeheure zu uns heran; an uns liegt es, wie viel wir davon wahrnehmen wollen.

Zwischen Uruguay und Argentinien erstreckt sich die Handlung – zwischen zwei Militärdiktaturen, die ihre Spuren hinterlassen haben. Der Autor, Carlos María Domínguez, wurde 1955 in Buenos Aires geboren und lebt seit Ende der 1980er Jahre in Montevideo. Das Foto auf dem Buchumschlag zeigt ihn lachend, aber in ausgelassener Stimmung ist das Buch wohl nicht geschrieben. Es handelt von Verstörungen, und es ist verstörend. Der Leser muss sich mit Rätselhaftem arrangieren, wie es schon in Domínguez` grandioser Erzählung »Das Papierhaus« war. Warum ist Arturo Balz so in sich gekehrt und schleppt eine Schmuckschatulle mit sich herum? Wovor ist Camboya weggelaufen? Ja, was ist das überhaupt für ein seltsamer Name?

Nach und nach erfahren wir mehr: Arturo hat in Buenos Aires mit einer Untergrundkämpferin gelebt, Cecilia mit dem Decknamen Tina, die eines Tages verschwunden war. Nach langem Umherirren war er zu seinen Verwandten nach Uruguay zurückgekehrt, hatte sich bei einem Engländer verdingt, der sein Grundstück mit einem hohen Zaun umgeben hatte und auf eine Weise über seine beiden Töchter wachte, dass es schon nicht mehr normal war ... Und Camboya hat einen Vater, der die Jahre im Gefängnis als einen Preis betrachtete, den er für etwas gezahlt hatte, das ihm alle nun schuldig waren. »Verdorbene Jugend!« hatte »dieser kleine Gottvater« sie angeschrien. »Hatte sie einen verdorbenen Geist? War es nicht eher seiner, wenn er der kommunistischen Partei gehorchte?«

Domínguez wüsste schon, wie man auf direkte, eindringliche Weise von den Folgen der Militärdiktatur erzählt. Aber er will es nicht, weil aus seiner Sicht das Gesellschaftspolitische viel stärker mit dem Individuellen und Zufälligen verwoben ist, als das im nachhinein zugegeben wird. Ein Bild dafür gibt die Wirtsfrau Emma ab, die eifrig am Stricken ist, während sie der Geschichte von Arturo und Camboya lauscht. Doch wer ist der Erzähler? Woher kann er wissen, was Camboya und Arturo verborgen bleibt? Wir erleben, wie sich die Fäden der Handlung verknüpfen und doch ist es nicht so, dass sich die Handlung entwickeln würde. Die Geschichte war schon fertig, bevor wir in sie eingetreten sind. Und sie geht weiter, nachdem wir das Buch zugeschlagen haben. Allein dieses Detail: Während Emma ihre Zwischenfragen stellt, scheint ihr Mann in einen bedenklichen Zustand zu geraten. Sie kümmert sich nicht. Ihre schwangere Schwester taucht auf. Sie hat nur eine knappe Bemerkung für sie.

Carlos María Domínguez: Die blinde Küste. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Suhrkamp. 138 S., geb., 15,90 €.

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