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Wachstum – nicht für alle

In Israel profitieren nur einige Branchen vom kräftigen Aufschwung

  • Martin Lejeune
  • Lesedauer: 3 Min.
Ein für heute geplanter Generalstreik in Israel wurde von den Gewerkschaften in letzter Minute abgesagt. Für die sozialen Probleme ist aber dennoch keine Lösung in Sicht.

Das Wirtschaftswachstum in Israel betrug im letzten Quartal 7,8 Prozent. Das Land stand damit an fünfter Stelle der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

Die von Finanzminister Yuval Steinitz stolz verkündeten Zahlen können aber nicht über die Unzufriedenheit vieler mit der Wirtschaftspolitik der Regierung hinwegtäuschen. Denn während die Wirtschaft wächst und die Preise steigen, stagnieren die Löhne. »Das israelische Wirtschaftswachstum, das chinesische Dimensionen annimmt, ist ein selektives Wachstum. Nur bestimmte Branchen, etwa der Bausektor, profitieren davon«, relativiert Roby Nathanson, Leiter des Instituts für Wirtschafts- und Sozialforschung in Tel Aviv, die Erfolgsmeldungen der Regierung. Ein Wachstum in dieser Höhe werde sich in den kommenden Quartalen nicht fortsetzen, da die Investitionen aus dem Ausland und der Privatkonsum nicht weiter ansteigen werden, so der Ökonom gegenüber ND: »Wenn Israel längerfristig wachsen möchte, dann muss es eine Politik machen, die alle beteiligt, dazu gehört vor allem der arabische Sektor.«

Unter der arabischen Minderheit, zu der etwa 20 Prozent der Bevölkerung gehören, sind Armut und Arbeitslosigkeit besonders stark verbreitet. Insgesamt lebt jeder fünfte Haushalt Israels unter der Armutsgrenze, das sind zweimal so viele wie im OECD-Durchschnitt. »Um die Armut zu bekämpfen, müssen die derzeitigen Überschüsse aus den Steuereinnahmen fairer verteilt werden«, fordert Nathanson. Sie sollten auch in die stark vernachlässigte Infrastruktur in arabischen Städten wie Umm al-Fahim im Norden oder Rahad im Süden des Landes fließen. Nur durch gerechtere Umverteilung können Einkommensunterschiede gemindert werden. Dies sei von Steinitz bisher versäumt worden, mein Nathanson.

Als der Finanzminister kürzlich eine Erhöhung der Benzinpreise ankündigte – in Israel sind diese staatlich kontrolliert und unterliegen hohen Steuern –, koalierten der Gewerkschaftsdachverband Histadrut und der Verband der Arbeitgeber, da beide Lager gleichsam unter hohen Benzinpreisen leiden, und kündigten für heute einen Generalstreik an. Diesen konnte Steinitz quasi in letzter Sekunde abwenden, indem er die angekündigte Benzinpreiserhöhungen wieder zurücknahm.

Der Gewerkschaftskurs ist indes nicht unumstritten: »Längerfristig ändert dieser zahme Druck der Histadrut, der sich in der Ankündigung von Streiks erschöpft, und diese merkwürdige sozialpartnerschaftliche Koalition mit dem Kapital nicht die Politik der Regierung zugunsten der Arbeitnehmer«, meint Assaf Adiv vom Verein WAC, in dem auch viele arabische Arbeiter organisiert sind. »Israel hat riesige soziale Probleme, die sich nicht dadurch lösen lassen, dass eine Erhöhung des Benzinpreises verhindert wird.« Adiv fordert von Steinitz ein Ende der Politik, direkte Steuern zu senken und indirekte Steuern zu erhöhen, sowie eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns, der derzeit bei umgerechnet 777 Euro liegt. »Die Löhne steigen bei Weitem nicht so stark wie die Preise, zum Beispiel für Brot (10 Prozent) oder für Wasser (134 Prozent). Das ist ungerecht und dagegen hilft nur ein Mindestlohn, der mindestens doppelt so hoch sein muss wie der derzeitige«, so Adiv.

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