August will nach Hause

Arno Geiger erhebt seinen dementen Vater zum »alten König im Exil«

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein Buch über einen dementen alten Mann – man liest es atemlos. Mit welcher Ruhe im Gemüt, während man doch gerade wegen dieser Krankheit unruhig war. Viele wird sie treffen, lauten die Prognosen, wenn die Bevölkerung insgesamt älter wird.

Es gibt schon genug Erfahrungsberichte und Ratgeber, wie mit Alzheimer in der Familie umzugehen sei. Genau genommen ist Arno Geigers Buch auch ein Erfahrungsbericht. Denn im Mittelpunkt steht August Geiger, der Vater, der eines Tages den Betondeckel der ehemaligen Kläranlage zerschlug, weil er ihn allein nicht hochheben und zurück in die Öffnung legen konnte, der nach einem Festessen noch zehn oder fünfzehn Tortenstücke verschlang und dann zwei Tage krank darniederlag. Etwas, das man zurückweisen musste. »Sabotage« – niemand ahnte, dass er langsam seine alltagspraktischen Fähigkeiten verlor, dass die Krankheit ihr Netz über ihn zog.

Natürlich, es ist die Sprache, die Geigers Buch von den üblichen Ratgebern unterscheidet, die indes auch sehr einfühlsam sein müssen, sonst wären sie keine. Alzheimer-Kranke können nicht über ihren Zustand schreiben, das tun Ärzte oder betroffene Angehörige. – Leidtragende jener Krankheit, die einen nahestehenden Menschen so fremd werden lässt, so abweisend mitunter und zugleich dermaßen der Hilfe bedürftig, dass es die Jüngeren kaum mehr bewältigen können. So dräut das Schicksal über uns, wenn wir uns glücklich wähnen, so stichelt die Furcht. Abwärts – niemand kann sich dem erwehren. Freitod vorher – der Gedanke kam manchem schon –, weil es unerträglich scheint, dermaßen die Freiheit zu verlieren.

»Den Gesunden öffnet die Alzheimer-Erkrankung die Augen dafür, wie komplex die Fähigkeiten sind, die es braucht, um den Alltag zu meistern«, schreibt Arno Geiger. »Gleichzeitig ist Alzheimer ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft. Der Überblick ist verlorengegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar. Pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme, Zukunftsängste.« Vom Vater erzählend, spricht er von einem Jahrhundert, für das die Krankheit ein Zeichen ist, aber vor allem spricht er von sich selbst – und von mir, der die Bedrohung nun ganz nahe rückt.

August Geigers Lebensgeschichte: geboren in die Familie eines strengen Vaters, ganz jung in den Krieg geschickt und zurückgekehrt mit nur einem Wunsch – Sicherheit, Geborgenheit. Das hat ihn seinen Kindern fremd gemacht. Nun, als Kranker, suchte er plötzlich seine Kinder, meinte, man habe sie ihm weggenommen. Immer wieder sprach er davon, dass er nach Hause wolle. Und ich erinnerte mich an meinen Großvater, wie er eines Nachts, nur mit einem Hemd bekleidet, im Flur seiner und unserer Wohnung stand und nur mit Mühe davon abzuhalten war, ins Treppenhaus zu entwischen, um, »nach Hause« zu gehen. Arno Geiger beobachtet das Befremdliche genau, und man merkt wieder einmal, was für ein mächtiger Schutz das Schreiben-Können doch ist. Es ist eine Aneignung und Ich-Erweiterung. Solange wir schreiben und lesen können, ist das Schlimmste noch weit. »Das Schlimmste« – weiche nicht zurück, schau es dir an.

Annäherung als Lebensleistung: Geiger beschreibt, wie er die Krankheit erkennen, akzeptieren lernte, wie das so Schwere seltsamerweise leichter wurde – als er aufhörte, sich dagegen zu wehren. Wie der von Kindheit an ferne Vater ihm sogar näher rückte, indem er seine Merkwürdigkeiten registrierte, im Grunde selbst zu einem anderen Leben aufbrach: weniger Normierungen, mehr Mitgefühl.

Er ist ein freiberuflicher Schriftsteller, mag man sagen, er kann es sich leisten. Aber gerade ein Schriftsteller muss seine Seelenkräfte schützen; also bekommen wir es beim Lesen mit unseren eigenen Seelenkräften zu tun. »Für uns alle ist die Welt verwirrend, wenn man es nüchtern betrachtet, besteht der Unterschied zwischen einem Gesunden und einem Kranken vor allem im Ausmaß der Fähigheit, das Verwirrende an der Oberfläche zu kaschieren. Darunter tobt das Chaos.«

»Ich bin ein armer Krauterer«, sagt der Vater, »ich bin tief unfähig, ganz tief unfähig.« Er spürt die Schwäche. Manchmal erkennt er, dass er nicht mehr richtig tickt. Ein andermal wieder revoltiert er, sucht die Schuld in der Außenwelt. Das Größte für den Sohn: wenn er ihm sagt »Du bist mein bester Freund«. Wie wird man zum besten Freund? Wie gelingt es, das Verwirrende als fantasievoll und verschmitzt zu empfinden? Es ist eine willentliche Verwandlung: vom alten, kranken Vater zum »alten König in seinem Exil«. »Etwas in Schönheit beschließen.« Dazu muss man sich zur Schönheit entschlossen haben. Und vor allem zum Leben. »Hast du Angst vor dem Sterben?«, fragt Arno Geiger den Vater. »Obwohl es eine Schande ist, es nicht zu wissen, kann ich es dir nicht sagen.«

Sie haben einen so aufrichtigen Gesprächston gefunden, wie es unter Gesunden selten ist. Denn der Sohn hat sich gerade jetzt vorgenommen, etwas vom Vater zu lernen, »Vergeltung am Tod kann man nur zu Lebzeiten üben«. Wir sehen: Trotz allem hängt der Vater am Leben. »Ich würde lieber noch ein wenig – schnattern.« Das Leben – es ist doch mehr als nüchterne Wirklichkeit. Die Lektüre macht glücklich, seltsamerweise. »Das Glück, das durch die Nähe zum Tod eine besondere Dichte erhält. Dort, wo wir es nicht erwartet hätten.«

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. Hanser Verlag. 189 S., geb., 17,90 €.

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