Gemeinsam ohne »Restgruppe«

Osnabrücker Netzwerk setzt sich gegen Aufteilung der Kinder in Regel- und Förderschulen ein

  • Martina Schwager, epd
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Bundeselternrat dringt auf einen umfassenden Umbau des Schulsystems, um behinderten und nichtbehinderten Kindern ein gemeinsames Lernen zu ermöglichen. Die seit zwei Jahren geltende UN-Behindertenrechtskonvention fordere unter dem Stichwort »Inklusion« genau das, sagt der Vorsitzende des Gremiums, Hans-Peter Vogeler. In Osnabrück will Silke Möller, Mutter einer Tochter mit Lernschwäche, die Entwicklung mit dem »Netzwerk Inklusion« vorantreiben.
Silke Möller in der Rosenplatzschule Osnabrück, wo ihre Tochter Jessica die vierte Klasse besucht.
Silke Möller in der Rosenplatzschule Osnabrück, wo ihre Tochter Jessica die vierte Klasse besucht.

Osnabrück. Jessica Möller ist ein fröhliches Mädchen. Sie schwimmt gerne, geht zum Judo und verabredet sich am liebsten mit ihren Freundinnen. Die Zehnjährige besucht die vierte Klasse einer Grundschule im niedersächsischen Osnabrück. Das Lernen macht ihr Spaß, obwohl es ihr viel schwerer fällt als den Klassenkameraden. Sie bekommt häufig andere Aufgaben und Hilfen durch eine Förderlehrerin. Jessica hat eine Lernschwäche. »Na und?«, sagen ihre Mitschüler.

»Sie ist super integriert und hat von den stärkeren Schülern enorm profitiert«, sagt ihre Mutter Silke Möller. »Da ist es doch widersinnig, dass sie nach der Grundschulzeit im Sommer eigentlich auf eine Förderschule für Lernbehinderung soll.« Die Förderschule wäre für Jessica der normale Weg. Nur 18 Prozent aller behinderten Kinder werden in Deutschland in Regelschulen unterrichtet, vor allem in Grundschulen. In weiterführenden Schulen ist ihr Anteil sehr gering. Nach geltendem Recht müsste Jessica jedoch der Besuch einer Regelschule auch weiter ermöglicht werden. Vor zwei Jahren, am 26. März 2009, trat die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft. Danach haben alle Kinder mit Benachteiligungen einen Anspruch, an regulären Schulen unterrichtet zu werden. Der entscheidende Fachbegriff lautet »Inklusion«. Er meint die selbstbestimmte und selbstverständliche Teilhabe aller an der Gesellschaft.

Variante des Lebens

Dahinter stehe ein neues Gesellschaftsmodell, urteilt die Kinderkommission des Deutschen Bundestages. Behinderung ist danach eine normale Variante des menschlichen Lebens. Der behinderte Mensch steht nicht außerhalb und muss erst noch integriert werden. Er gehört ganz selbstverständlich dazu. Also muss die Gesellschaft in allen Bereichen und somit auch in der Bildung die Voraussetzungen schaffen, dass jeder teilhaben kann.

Ein solches Gesellschaftsmodell könnte die deutsche Schullandschaft wirklich umkrempeln, meinen Experten. Simone Seitz, Bremer Professorin für inklusive Pädagogik, und Anne-Dore Stein, Professorin für inklusive Erziehung an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt, halten einen Wechsel im Schulsystem für nötig. »Denn mit der Aufteilung der Schüler in Förderschulen, Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien ist Inklusion nicht möglich«, sagt Stein: »Inklusion meint wirklich alle.« In vielen Ländern in Skandinavien, in Italien oder Kanada werde Inklusion in Kindergärten und Schulen längst flächendeckend praktiziert.

Der Präsident der Kultusministerkonferenz, der Niedersachse Bernd Althusmann (CDU), hält dagegen eine Änderung des Schulsystems für nicht nötig. Fortbildungen und eine Umstellung der Lehrerausbildung seien zunächst ausreichend. Ohnehin sei nicht in allen Fällen »gemeinsames Lernen« die sinnvollste Lösung.

Die Inklusion von Schwerstbehinderten, Autisten oder Gehörlosen könnten sich die meisten tatsächlich nicht vorstellen, sagt Pädagogin Stein. Dass aber gerade die Inklusion dazu führe, dass eine »Restgruppe« ausgeschlossen werde, dürfe auf keinen Fall passieren, warnt sie. Deshalb seien mehr qualifiziertes Personal und eine entsprechende Ausstattung notwendig.

Jessica hat wohl Glück

Auf einen Wandel des deutschen Bildungssystems können Jessica und ihre Mutter nicht warten. Mit einem eigens gegründeten »Netzwerk Inklusion« will Silke Möller die Sache vorantreiben: »Die sollen doch endlich mal anfangen.« Für den Regelschulbesuch ihrer Tochter würde sie sogar klagen.

Aber Jessica hat wahrscheinlich Glück. Die neue Integrierte Gesamtschule in Osnabrück will künftig auch behinderte Schüler aufnehmen, sagt Schulleiter Stefan Knoll.

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