Wer legte die Bombe in der Station »Oktjabrskaja«?

Anschlag in der belarussischen Hauptstadt Minsk forderte mindestens zwölf Todesopfer

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.
Am Tag nach dem verheerenden Bombenanschlag in der U-Bahn der belarussischen Hauptstadt Minsk am Montagabend wurden mehrere Menschen festgenommen. Der stellvertretende Generalstaatsanwalt Andrej Schwed kündigte die Veröffentlichung von Phantombildern Verdächtiger an, die noch auf der Flucht seien.

Offiziell ist von zwölf Todesopfern die Rede, 204 Menschen wurden beim Anschlag auf die Minsker Metro am Montagabend verletzt, 150 lagen am Dienstag noch in den Krankenhäusern, der Zustand von 40 Opfern galt als kritisch. Im Internet berichteten Blogger allerdings, es habe wesentlich mehr Tote gegeben. In den Leichenhäusern lägen noch 30 Opfer des Anschlags, die so grässlich verstümmelt seien, dass sie bisher nicht identifiziert werden konnten.

Polizei und Sicherheitsdienste gehen inzwischen von einem Terroranschlag aus, jedoch nicht von einem Selbstmordattentat. Der Sprengsatz war demzufolge in einer großen Sporttasche unter einer Steinbank auf dem Bahnsteig der Metrostation »Oktjabrskaja« deponiert – einem Umsteigebahnhof mitten im Stadtzentrum. Die Bombe, gespickt mit Metallteilen, wurde per Fernzündung kurz vor 19 Uhr Ortszeit aktiviert, als viele Minsker auf dem Heimweg von der Arbeit waren.

Präsident Alexander Lukaschenko erteilte seinen Sicherheitsdiensten am Dienstag auf einer Krisensitzung den Befehl, »Tag und Nacht« nach Terroristen und deren Hintermännern zu fahnden. Das »Geschenk« stamme womöglich aus dem Ausland, gesucht werden müsse allerdings auch zu Hause. Es sei festzustellen, »wem die Explosion nutzte, wem Stabilität und Ruhe in Belarus gegen den Strich gingen«. Den Angehörigen der Toten versprach die Regierung jeweils umgerechnet 6900 Euro Schmerzensgeld.

Terrorismusexperten sind sich uneins über Täter und Motive. Zwar lassen manche Umstände des Anschlags auf eine nordkaukasische Urheberschaft schließen. Da Belarus bei Moskaus Auseinandersetzungen mit Islamisten und Nationalisten jedoch strikte Neutralität wahrt, fehlt ein plausibles Motiv. Die einheimische politische Opposition komme ebenfalls nicht in Frage, meint Kyrill Koktysch, Professor für politische Theorie an der Moskauer Diplomatenakademie. Er nannte die zerstrittenen und zahlenmäßig schwachen Gegner Lukaschenkos ein »fleischloses Gericht«, das zu derartigen Aktionen jetzt weniger in der Lage sei als je. Herausforderer Lukaschenkos bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember warten derzeit noch auf ihren Prozess wegen Anstiftung zu Massenunruhen nach der Abstimmung und werden vom Komitee für Staatssicherheit (KGB) rund um die Uhr observiert.

Wenig wahrscheinlich ist auch eine in Russland gehandelte Version, wonach der Anschlag auf das Konto Georgiens geht. Als Rache dafür, dass Lukaschenko nach einem Flirt mit seinem Amtskollegen Michail Saakaschwili und der Gründung von Gemeinschaftsunternehmen jüngst sogar die mit Tbilissi bereits ausgehandelte Visafreiheit abblies. Dies angeblich auf Druck aus Moskau, wo man dennoch keine Eile bei der Ausreichung eines Drei-Milliarden-Kredits an den Tag legt, mit dem Lukaschenko eine Talfahrt der Wirtschaft bremsen und soziale Spannungen im eigenen Land mindern will. Die Moskauer »Nesawissimaja Gaseta« berichtete, die belarussische Bevölkerung horte bereits Zucker, Öl und Mehl, vor den Wechselstuben stünden lange Schlangen, weil die Menschen ihre Ersparnisse in Devisen umrubeln.

So schließen Verschwörungstheoretiker und erbitterte Gegner des belarussischen Präsidenten denn auch nicht aus, dass Geheimdienste die Fäden des Anschlags zogen – wie schon bei den Unruhen nach der Dezember-Wahl. Uneinig sind die »Experten« nur, ob dies im Auftrag oder hinter dem Rücken Lukaschenkos geschah. Der brauche angesichts wachsender Unzufriedenheit einen plausiblen Vorwand, um die innenpolitischen Daumenschrauben anziehen zu können, behaupten die einen. Immerhin drohte er bereits mit »adäquater Antwort« auf die »unverschämte Herausforderung«.

Andere – wie der russische Belarus-Kenner Pawel Scheremet – tippen dagegen auf einen Machtkampf rivalisierender Gruppen innerhalb des Sicherheitsdienstes KGB. Deren Ausgang würde auch über das weitere Schicksal Lukaschenkos entscheiden.

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