Ist unsere Gesellschaft plural?

Sunil Sengupta über Offenheit und Abgrenzungen / Sengupta, Professor für Sprachwissenschaft und Sinologie, forschte unter anderem an der Humboldt- Universität

  • Lesedauer: 3 Min.
Fragwürdig: Ist unsere Gesellschaft plural?

ND: Sie stammen aus Indien und leben seit 1961 in Berlin. Ist die deutsche Gesellschaft Ihrer Meinung nach plural?
Sengupta: Es gibt Menschen, die in Pluralität leben. Sie sind bestimmt mehr geworden. Sprechen Türken untereinander Türkisch, um dann mit einem Araber Deutsch zu reden, ist das gelebte Pluralität. Die Einheit entsteht durch Kommunikation. Aber ob sich die Deutschen daran gewöhnt haben, in einer pluralen Gesellschaft zu leben, ist eine andere Frage.

Wie meinen Sie das?
In Deutschland und in Europa ist die Idee der Nationalstaaten sehr alt, und da ist Pluralität ein Problem. Vor allem auf den Dörfern gibt es immer nur ein Sprachgebiet. Es gibt nur eine einzelne Sprache, die deutsche Sprache. Die meisten anderen Sprachgebiete sind in der Stadt, wie zum Beispiel in Berlin-Kreuzberg oder Neukölln. Dort existiert Pluralität, aber wenn man nach Köpenick oder Pankow geht, dann wird dort Deutsch gesprochen. Ich denke, Menschen müssen nicht erst die deutsche Sprache sprechen können, um eingegliedert zu werden.

Glauben Sie, dass in Indien die plurale Gesellschaft weiter ist?
Indien ist ein klassischer pluraler Staat.

Wie funktioniert das?
In Bengalen, wo ich herkomme, haben sich vier Sprachgruppen vermischt: sinotibetisch, indoeuropäisch, dravidisch und austroasiatisch. Aus der Schnittmenge dieser vier Sprachen ist Bengali entstanden. Hinzu kommen Einflüsse aus dem Arabischen und dem Englischen.

Die Menschen leben in ihren Siedlungen, mit ihrer Sprache, ihren Gewohnheiten nebeneinander. Es gibt in Indien nicht nur ein multilinguales Gebiet, sondern mehrere, beispielsweise mischen sich in Südost-Indien mehrere Sprachgruppen, aber auch im Südwesten bei Bombay. Da mischen sich vier oder fünf Sprachgruppen, nicht nur in den Städten, auch in den Dörfern. Mehrere ethnische Gesellschaften leben nebeneinander und sind durch ihr Sprachgebiet integriert. In Bengalen ist das Bengali.

Bedeutet die sprachliche Mischung auch eine kulturelle?
Ja, die Leute mischen sich, sie arbeiten miteinander, sie sprechen miteinander, feiern ihre Feste zusammen. Geheiratet wird untereinander allerdings weniger. Die indische Gesellschaft ist durch die Religion und das Kastensystem auch konservativ. Die Kastengesellschaft baut einen eigenen Schutzwall auf.

Aber ist das eine plurale Gesellschaft, wenn die einen die anderen ausschließen?
Die Gesellschaften haben diesen Mechanismus entwickelt. Sie schließen sich ab und deswegen streiten sie nicht miteinander. Deswegen sagen wir: Indien ist Einheit in Pluralität.

Pluralität bedeutet Ausschluss?
Nicht nur, es ist auch Austausch, sonst wäre Bengali nicht entstanden.

Was kann uns auf dem Weg in eine plurale Gesellschaft helfen?
Auf jeden Fall kein Zwang. Dieser Ton: Wenn Du nicht Deutsch lernst, kannst Du doch nicht hier leben. Die Menschen lernen die Sprache nach und nach, und vielleicht entwickelt sich auch eine Pidgin-Sprache, eine Art Verkehrssprache. Das passiert, ob man will oder nicht. Wenn jemand mit Fehlern spricht, aber trotzdem verstanden wird, ist der Zweck der Kommunikation erfüllt. Aber das ist eine Frage der Toleranz.

Fragen: Antje Stiebitz.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal