Wo sich die Stadt neu erfindet

Bremerhaven: Tourismusattraktion und soziales Notstandsgebiet

  • Lesedauer: 6 Min.
»Havenwelten«, Klimahaus, Zoo am Meer, Windjammertreffen und vieles mehr – Besucher von Bremerhaven können nur staunen, was dort alles los ist. Die andere Seite: Leiharbeit hat sich im Gebiet von Bremerhaven verdreifacht. Nach der Krise neu eingestellte Leiharbeiter bekommen deutlich weniger Lohn.

»Wenn du nach Bremerhaven kommst, ist es, als ob du unter einer riesigen Glasglocke bist. Unter der riecht es nur nach Fisch.« Ziemlich verächtlich sprach der Journalist vor nicht ganz 20 Jahren über seine Heimatstadt. »Unseren Marketingstrategen fällt nichts besseres ein als immer wieder in die gleiche Kerbe zu hauen«, wetterte der Mann, der irgendwann die Segel gestrichen hat und ins Ausland entschwunden ist.

Kommt er heute nach Bremerhaven zurück, erkennt er die Stadt kaum wieder. Zwischen Wesermündung und Innenstadt war damals nichts als Brache. Dort konnten die Besucher des Deutschen Schiffahrtsmuseums (DSM) hervorragend parken. Aber in den vergangenen fünf Jahren ist viel geschehen.

»Havenwelten« heißt das Projekt, das dem einst grauen Bremerhaven zu neuem Glanz verholfen hat. Das Deutsche Auswandererhaus, das Klimahaus 8° Ost und das Einkaufszentrum »Mediterraneo« sollen zusammen mit dem altehrwürdigen Zoo am Meer und dem DSM die Touristen anlocken. Von einer Million Besuchern gehen die Planer aus – ein Ziel, das ausnahmsweise einmal realistisch ist. Andere mit öffentlichem Geld geförderte Projekte wurden in der Vergangenheit meistens schön gerechnet.

Mit den »Havenwelten« ist es der Seestadt gelungen, sich im wahrsten Sinne neu zu erfinden. Wer etwa als Tagestourist oder als Besucher der alle fünf Jahre stattfindenden »Sail«, dem großen Windjammertreffen, nach Bremerhaven kommt, der kann nur staunen über das, was entlang der Außenweser alles geschieht.

Bremerhaven hat sich innerhalb von gut zwei Jahren auch zu einem Zentrum der Windkraftanlagenbauer gemausert. Die Stadt soll einer der Basishäfen für die Offshore-Windparks in der Nordsee werden. Was noch fehlt, ist der passende sogenannte Basishafen. Er wird aller Wahrscheinlichkeit nach am Blexer Bogen entstehen und rund 200 Millionen Euro kosten – Geld, das Bremen nicht hat. Der Offshore-Basishafen soll von privaten Investoren erbaut und betrieben werden, möglichst schon ab dem Jahr 2014. Ob dieser vom Senat abgesegnete Zeitplan eingehalten werden kann, ist derzeit die große Frage, zumal unter anderem der Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) eine Klage angekündigt hat.

Es ist das erste Hafenprojekt seit Jahrzehnten, auf das die Bremerhavener warten – und es wird das erste sein, das der Stadt selbst wirtschaftlich zugute kommt. Zwar gehören die Infra- und die Suprastrukturen zur Stadtgemeinde Bremen, weshalb auch die Gewerbesteuern in die Kassen 60 Kilometer flussaufwärts fließen. Doch das Gebiet rund um den Alten Hafen und den Neuen Hafen, dort wo sich die »Havenwelten« befinden, hat Bremen-Stadt vor einigen Jahren an Bremerhaven abgetreten.

Für das Gebiet haben das Land Bremen und die Stadt Bremerhaven seit dem Jahr 1998 insgesamt mehr als 281 Millionen Euro bewilligt. Die tatsächlichen Kosten waren jedoch noch knapp 13 Millionen höher. Dieses Geld musste Bremerhaven über ihre 100-prozentige Tochter Entwicklungsgesellschaft Alter/Neuer Hafen aufbringen. Darüber stritten sich Bremen und Bremerhaven vor zwei Jahren, doch inzwischen ist das Thema vergessen – zu glücklich sind die Bremerhavener über ihre »Havenwelten« und die neue, führende Rolle, die die Stadt in Sachen Energiegewinnung spielt.

Denn aufgrund der wegbrechenden Werft- und Fischereiindustrie ab den 1970er Jahren schnellte die Zahl der Arbeitslosen und Sozialhilfe- beziehungsweise Hartz-IV-Empfänger immer weiter in die Höhe. Laut Arbeitsagentur lag die Arbeitslosenquote im April 2010 bei 16,3 Prozent. Damit liegt Bremerhaven an der Spitze unter den westdeutschen Kommunen.

Diese Zahlen sind das sichtbare Ergebnis des Strukturwandels, unter dem Bremerhaven nach wie vor leidet. So ist allein seit 1990 ein gutes Viertel aller sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze verloren gegangen. Erst seit dem Jahr 2006 geht es allmählich wieder aufwärts. So vermeldete die Arbeitsagentur für April 2011, dass sich der positive Trend fortsetze. Im vergangenen Monat seien 1232 freie sozialversicherungspflichtige Stellen gemeldet worden – 59 Prozent mehr als noch vor einem Jahr. Trotzdem hält Bremerhaven im Bundesvergleich noch immer einen traurigen Rekord: Die Menschen, die länger als ein Jahr ohne Beschäftigung sind, machen rund 80 Prozent der Arbeitslosen aus – im Bundesvergleich sind es 63 Prozent.

Was auch nicht so gern erwähnt wird, ist die Verdreifachung der Leiharbeit im Gebiet von Bremerhaven. Die Arbeitnehmerkammer Bremen gibt die Zahl in einer Untersuchung von 2009 mit 1400 an. Unter die Lupe nahmen die Fachleute die Entwicklung seit 2003, dem Jahr der Einführung der Hartz-Gesetze. Für Bremerhaven ist diese Entwicklung von besonderer Bedeutung, weil es mit dem Gesamthafenbetriebsverein (GHBV) bereits seit vielen Jahrzehnten sozusagen eine eigene Verleihstelle von Arbeitskräften für die Hafenwirtschaft gibt. Dieses System funktionierte immer gut: Die beim GHB angestellten Hafenarbeiter wurden nach Anforderung der Betriebe immer dort eingesetzt, wo sie gebraucht wurden. Doch dann kam die Wirtschafts- und Finanzkrise, und die Umschlagzahlen am Containerterminal Bremerhaven und im Autohandel brachen ein – zwei Bereiche, in denen die Häfen von Bremerhaven international Spitze sind.

Weil es keine Arbeit mehr gab, musste der GHB mehrere hundert Leute entlassen. Mit dem unerwartet einsetzenden Aufschwung konnten die Anforderungen der Hafenbetriebe nicht mehr befriedigt werden. Vor allem das Umschlagsunternehmen BLG Logistics machte von sich reden, da es Menschen zu erheblich niedrigeren Löhnen einstellte. Die Neuen bekämen zum Beispiel im Autoumschlag nur 10,90 Euro statt wie bislang 13,14 Euro je Stunde. Zudem berichten Insider, dass die neuen Kräfte nicht geschult seien; mit entsprechenden Konsequenzen: Autos würden häufig beim Be- und Entladen beschädigt, was die Kunden verärgere.

Der wirtschaftliche Niedergang hat nicht nur Arbeitsplätze verschwinden lassen. Auch schrumpfte die Zahl der Bewohner von über 148 000 im Jahr 1968 auf gut 113 000 Ende 2010. Sichtbar ist dies etwa im Stadtteil Lehe, wo zahlreiche Wohnhäuser leer stehen. Seit die letzten Mieter – aus welchem Grunde auch immer – ausgezogen sind, lassen die Inhaber ihre »Schrottimmobilien«, wie sie in Bremerhaven genannt werden, verkommen. Dagegen wehrt sich die Stadt jetzt mit dem rigorosen Abriss.

Und als ob das alles nicht genug wäre, konzentrieren sich die Vertreter des rechten politischen Spektrums seit über 20 Jahren auf Bremerhaven. Die Besonderheit des bremischen Wahlrechts schafft günstige Voraussetzungen: Die Bewerber um ein Mandat in der Bürgerschaft müssen nicht im ganzen Land fünf Prozent der Stimmen erreichen, sondern nur in ihrem Wahlbezirk. Davon hat das Land Bremen zwei: die Stadt Bremen und die Stadt Bremerhaven.

Auf diese Weise schaffte es die Deutsche Volksunion (DVU) 1991, in die Bürgerschaft einzuziehen. Gleiches geschah bei späteren Urnengängen. Forscher haben bereits vor mehreren Jahrzehnten einen »rechten Bodensatz« ausgemacht, vor allem in Bremerhaven. Bei der Wahl 2007 kam die DVU dort auf 5,3 Prozent und stellte einen Abgeordneten – der allerdings später aus der Partei austrat. Die Wählergemeinschaft »Bürger in Wut«, die nach einem Gerichtsbeschluss nicht als rechtsextremistisch bezeichnet werden darf, erreichte in Bremerhaven ebenfalls knapp 5,3 Prozent und ist mit einem Sitz in der Bürgerschaft vertreten. In diesem Jahr will es die NPD wissen. Sie eröffnete denn auch extra in Bremerhaven ein »Bürgerbüro«.

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