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Forderung nach Entschädigung und Therapie

Die Bundesbeauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs legt ihren Abschlussbericht vor

Christine Bergmann (SPD) stellte als Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs gestern ihre Ergebnisse vor. Nach einjähriger Tätigkeit sollen ihre Empfehlungen an den Runden Tisch gehen. Ziel ist es, bisherige Fälle aufzuarbeiten und Kinder zukünftig besser vor sexuellen Übergriffen zu schützen.

Sexueller Missbrauch in Schulen, Internaten und Heimen war ein Tabu, das nur deshalb thematisiert worden sei, weil die Betroffenen darüber erzählt hätten, rekapitulierte Bergmann gestern noch einmal, wie der Stein ins Rollen kam, aus dem im vorigen Jahr eine Lawine wurde. Immer mehr Betroffene berichteten über Übergriffe an Internaten wie am Berliner Canisius Kolleg oder der Odenwaldschule in Hessen, in ehemaligen DDR-Heimen, Schulen und Familien.

Das Bundeskabinett sah dringenden Aufklärungsbedarf und beauftragte im März 2010 die ehemalige Bundesfamilienministerin Bergmann als unabhängige Beauftrage zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs. Sie sollte eine Anlaufstelle für Betroffene einrichten und das Thema umfassend aufarbeiten, um im Anschluss daran Empfehlungen für die Bundesregierung und den Runden Tisch sexueller Kindesmissbrauch abgeben zu können.

Seit Mai letztes Jahr existiert die Anlaufstelle für die Opfer und hat sich offenbar bewährt: 15 000 Anrufe und Briefe sind dort eingegangen. »60 Fachkräfte haben die Betroffenen betreut«, erklärte der Psychotherapeut Jörg M. Fegert, der die wissenschaftliche Begleitforschung koordinierte. Darunter seien »immer wieder Missbrauchsfälle in DDR-Heimen zur Sprache gekommen, die weit über den Einzelfall des Jugendwerkhofs Torgau hinausgingen«, meinte Fegert.

Aus einer begleitenden Erhebung ihrer Arbeit ergeben sich Fakten, die trotz der öffentlich gewordenen Missbrauchsfälle an Jungen in Kircheneinrichtungen wenig überraschen: 89 Prozent der Opfer sind weiblich, während 93 Prozent der Täter männlich sind. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Fegert in der Auswertung der Angaben, die Betroffene am Kontakttelefon gemacht haben.

»Wir haben die Betroffenen immer als Expertinnen und Experten behandelt«, verriet Bergmann über die Arbeitsweise der Anlaufstelle. Über diese Einzelgespräche hinaus suchte die Beauftragte auch Gespräche mit Opferhilfen, Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen sowie behandelnden Psychotherapeuten und Schulen, um sich ein Bild darüber zu machen, wo es dringenden Handlungsbedarf gibt.

Bergmann gibt nun ihre Empfehlungen an die Politik. Sie findet es wichtig, dass die Betroffenen finanziell entschädigt werden – »auch in jenen Fällen, die juristisch verjährt sind«. Die Opfer seien schließlich dauerhaft in ihrem Leben beeinträchtigt. »Viele Betroffene plagen Erinnerungen an die Taten, sie leiden unter Selbstwertproblemen und einige haben auch Selbstmordgedanken«, erläuterte Fegert. Wie hoch die Entschädigung ist, darüber soll eine Schiedsstelle entscheiden. Es müsse verbindliche Standards geben, die an eine Schmerzensgeldtabelle angelehnt seien, rät Bergmann. Zudem spricht sich die Beauftragte dafür aus, dass auch jenen Betroffenen eine Therapie von den Krankenkassen gewährt wird, bei denen der Missbrauch strafrechtlich verjährt ist.

Sie hofft, mit ihrer Tätigkeit als Beauftragte Handlungsdruck für die Bundesregierung aufgebaut zu haben. Doch weiß auch, dass das Thema umfassend und komplex ist: Ländliche Räume seien mit Therapeuten unterversorgt; auch für Beratungsstellen müsse es Weiterbildungsmöglichkeiten geben. »Überall, wo wir hingucken, haben wir drei neue Baustellen entdeckt«, so Bergmann.

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