»Ich war so deutsch«

Hans Keilson war 101 Jahre alt und zuletzt weltberühmt. Jetzt ist er gestorben

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.
Hans Keilson 2008
Hans Keilson 2008

Sein letztes Buch hat er noch in Händen gehalten und sich wieder ein bisschen gewundert über all die bewundernden, rühmenden Worte, die er hören und lesen konnte. Das Buch, ein schmales Bändchen, erzählt seine Geschichte. Er hat es 1990 begonnen und irgendwann aufgegeben, weil er den Eindruck hatte, dass es unfertig war, und weil er glaubte, es nicht mehr vollenden zu können. Heinrich Detering, der schon vor Jahren bei S. Fischer die zweibändige Werkausgabe ediert hat, fand es unter Hans Keilsons Papieren, und so gelangten die Erinnerungen vor wenigen Wochen doch noch in unsere Hände. Der Titel »Da steht mein Haus« spielt auf das Domizil in Holland an, in dem er über ein halbes Jahrhundert gelebt hat. Jetzt hat er dieses Haus verlassen. Am Dienstag ist Hans Keilson, 101 Jahre alt, in Hilversum gestorben.

Er war Jazzmusiker, Sport-, Turn- und Schwimmlehrer, außerdem Student der Medizin und gerade 23, als er bei S. Fischer seinen ersten Roman ablieferte. Er nannte ihn »Das Leben geht weiter«. Oskar Loerke las das Manuskript »mit sympathischem Eindruck« und notierte im Tagebuch, er wolle es empfehlen. Wochen später, Ende November 1932, beugten sich beide, Autor und Lektor, über den Text, der nun angenommen war und nur noch etwas gerafft werden musste. Das Buch, die Geschichte seines jüdischen Vaters (der später mit Keilsons Mutter in Auschwitz ermordet wurde), war »der Versuch, den Niedergang eines Kaufmanns aus dem kleinen Mittelstand in den politischen und ökonomischen Wirren der deutschen Geschichte nach 1918 zu beschreiben«. Es erschien Anfang 1933 und kam, wie Keilson später sagte, gerade zurecht, um verboten zu werden. Dennoch blieb er zunächst im Land und arbeitete weiter. »Ich war so deutsch«, sagte er im September 2010 in einem Interview. »Ich dachte nicht, dass sie mir das antun würden. Ich war doch einer von ihnen. Aber ich musste erkennen, dass die Deutschen mich nicht mehr als einen der Ihren betrachteten.« 1936 rettete er sich schließlich in die Niederlande, wo er bald untertauchen musste. Er ist nach dem Ende des Krieges dort auch geblieben, freiwillig wie die anderen, die niemand rief und die doch nicht aufhörten, deutsch zu schreiben. Hans Keilson war kaum in Sicherheit, als er anfing, Gedichte zu schreiben, eruptiv, wie er später bekannte. Sie definierten seine Erfahrungen, das Schicksal der Juden, ihr Leid, ihren Hass, das Leben im Exil. Er ist von diesem Thema nicht mehr losgekommen. Er begann seinen zweiten Roman »Der Tod des Widersachers«, aber nach 50 Seiten musste er die Arbeit abbrechen und die fertigen Kapitel vergraben (erst nach 1945 konnte er den Metallbehälter bergen und das Buch beenden). Im Untergrund dann, versehen mit gefälschtem Pass, ein neuer Anlauf, vom Dasein in jenen Jahren zu erzählen. Nun schrieb er die Geschichte des holländischen Juden Nico, der von einem nichtjüdischen Ehepaar versteckt wird, doch schließlich sind es nicht die Deutschen, denen er zum Opfer fällt. Eine Lungenentzündung rafft ihn dahin, und damit beginnt die »Komödie in Moll«, der von Turbulenzen begleitete Versuch, den Toten heimlich aus dem Haus zu schaffen und zu begraben.

Keilson hat nach dem Krieg in Bossum hauptsächlich als Psychoanalytiker gearbeitet. Er kümmerte sich, weithin bekannt, vor allem um die Betreuung traumatisierter jüdischer Kriegswaisen. Die Doktorarbeit, die aus dieser Beschäftigung hervorging, ein Standardwerk längst, nannte er immer sein wichtigstes Buch. Von der Literatur hat er nicht gelassen, aber seine eigentliche Aufgabe sah er in seiner Tätigkeit als Arzt. Erst als er Mitte neunzig war und die Augen schwächer wurden, gab er die Praxis schweren Herzens auf. Er hat auch seine Erinnerungen teilweise noch selber in den Computer getippt, dann ein wenig weiter diktiert und schließlich weggelegt.

Noch einmal blickt der im Dezember 1909 geborene Hans Keilson zurück. Noch einmal hört er die knarrenden Soldatenstiefel des Vaters. Es ist 1914, man lebt in Bad Freienwalde und zieht später nach Berlin. Er studiert Medizin und tourt mit einer Jazzkapelle durch die Tanzlokale der Stadt. Er ist dabei, wenn Hitler auf einer Wahlveranstaltung spricht, und weiß gleich: »Der Mann ist nicht in Ordnung.« Dennoch müssen Freunde ihn überreden, sich in Sicherheit zu bringen und in Holland an einem Krebsforschungsprojekt mitzuarbeiten. Sein größter Schmerz war (und blieb), dass er seine Eltern nicht retten konnte. Das alles hat Keilson in 22 kurzen Kapiteln beschrieben, leise und lapidar, mit vielen Aussparungen und Andeutungen und doch so dicht, so erfahrungsgesättigt, dass man sich wünschte, er hätte noch ein bisschen weitererzählt.

Der Ruhm kam spät. Als Keilson mit seinem Werk, den Romanen, Erzählungen, Aufsätzen und Gedichten, 2005 zum S. Fischer Verlag zurückkehrte, kannten ihn nur wenige. Jahre später, im August 2010, auch der Erfolg im Ausland, »der Durchbruch«, wie er am Schluss seiner Erinnerungen im Gespräch mit Heinrich Detering bekennt, geebnet von einem hymnischen Artikel in der »New York Times«. Würdigungen in Großbritannien und Spanien folgten, dazu Übersetzungen in viele Sprachen. Da war Hans Keilson schon hundert, ziemlich müde inzwischen, ein freundlicher, von Trauer über die unzähligen Toten gezeichneter Mann, einer der Letzten, die die Schrecken des 20. Jahrhunderts überlebten.

Hans Keilson: Da steht mein Haus. Erinnerungen, S. Fischer Verlag, 143 S., geb., 16,95 €.

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